Zu Besuch in Frankfurt Von Martin Sonneborn

Die Stadt Frankfurt am Main hat wenig Sehenswürdigkeiten. Zu ihnen gehört unzweifelhaft der Balkon einer restaurierten Altbauwohnung im Bahnhofsviertel, auf dem Herr Dr. Lauxtermann und ich bisweilen die sommerlichen Nächte verbringen. Nicht selten ließ uns hier bereits der Sonnenuntergang – auf das Schönste unterstützt von zwei Korbstühlen, einem gekühlten Kistchen Export- Bier und verschiedenen ofenfrischen Pizzagerichten aus einer nahegelegenen Spelunke – die Strapzen eines kontemplativen Lebenswandels für ein paar Stunden vergessen. Und da auch Herr Dr. Lauxtermann als ein überzeugter Angehöriger jener vielzitierten Generation X (wenn nicht sogar bereits der Generation Y bis Z) gelten darf – weigert er sich doch beharrlich, sein karges Geld anders zu verdienen als mit dubiosen Nachtwachen –, dauerte es beim letzten Mal gar nicht lange, bis ein paar gut in der Hand liegende water-guns unseren Protest gegen das Establishment launig vom Balkon feuerten. Wir trafen aber nur zwei Damen, die unten gerade einem uralten Gewerbe nachgingen. Wie sich sofort herausstellte, waren die beiden unserer revolutionären Aktion wenig zugetan, und dringend wurden Herr Dr. Lauxtermann und ich gebeten, doch mal runterzukommen! Nachdem wir die Damen abschlägig beschieden hatten, zogen sie recht lästerlich fluchend ab. Unser Feixen jedoch kam zu früh. Minuten später waren die beiden wieder da und unterstrichen ihre Bitte eindrucksvoll durch einige in unsere Richtung geworfene Backsteine. Auch wenn das Gestein nur unter uns in eine Leuchtreklame der Frankfurter Sparkasse krachte, erschütterte diese spontane Gewaltbereitschaft Herrn Dr. Lauxtermann und mich so sehr, daß wir uns schnellstens eine Entschuldigung abrangen: War doch nur Spaß! Zum Glück genügte das den Damen; die anschließende Versöhnung war fast überschwenglich.

Nach einigen weiteren Flaschen Export machte mir Herr Dr. Lauxtermann klar, daß unsere nächste Aktion einen besonders unkritischen Büttel der herrschenden Gesellschaftsform bis ins Mark treffen müsse: beispielsweise unsere ehemalige Sozialkundelehrerin Frau Bieler-Kentsch. Flugs wurde ihre Nummer erkundet und gewählt; kurz war das anschließende Gespräch. Herr Dr. Lauxtermann hatte ordnungsgemäß unsere Namen genannt, war gar nicht näher auf die schon fortgeschrittene Stunde eingegangen und hatte der Lehrerin direkt angedeutet, daß er ihren Unterricht damals eigentlich ziemlich scheiße fand. Den erbosten Wortschwall der Gegenseite konnte der Arzt dann nur noch durch Auflegen beenden.

Kurz darauf rief die Mutter von Herrn Dr. Lauxtermann an. Die Lehrerin Bieler-Kentsch habe gerade – es ging auf 23 Uhr! – bei ihr angerufen und gewarnt: Ihr Sohn säße mit einem Schulfreund in Frankfurt auf dem Balkon. Beide stünden unter Drogen und beschimpften ehemalige Lehrer. Sie würde das morgen dem Schulleiter melden.

Eine starke Drohung, fanden der Dok und ich, die wir vor fast genau zehn Jahren Abitur gemacht hatten. Trotzdem beschlossen wir, zumindest vorerst von weiterer Kritik am bourgeoisen Bildungssystem abzusehen. Sonst gibt's womöglich zum Jahresende einen Blauen Brief.