Den weißen Fleck wegküssen

■ Stephanie Haas singt sich „trunken von Küssen“ mit Liedern jüdischer Komponisten.

Als ein Ereignis ganz besonderer Art im Rahmen der Israeltage erwies sich der Liederabend „Trunken von Küssen“ der Sängerin Stephanie Haas im Christophorussaal in der Kirche Unser Lieben Frauen. Das Programm präsentierte zwei Liederzyklen von Gideon Klein und Victor Ullmann. Beide wurden in Auschwitz ermordet . Victor Ullmann, als Schüler von Arnold Schönberg Apologet der Avantgarde, verdankte dem Wiener Komponisten viel. Nach eigener Aussage „die logische Architektonik und die Liebe zu den Abenteuern der Klangwelt“. Im Vorzeigelager Theresienstadt fühlte er, dessen Frühwerk leider verloren ging, sich gar „gefördert“, Musik war für alle die Überlebenshoffnung schlechthin.

Die „Six Sonnets“, 1941 vor seiner Deportation komponiert, sind eigentlich sechs große dramatische (Liebes)Szenen, die die französische Dichterin Louize Labé im 16. Jahrhundert schrieb. Ullmann verlangt der Gesangsstimme nicht nur einen Riesenumfang ab, sondern auch eine enorme Palette zwischen Sprechartigem und großem Melos: die Klangpracht und Nuancierungsfähigkeit von Stephanie Haas' Stimme wurde dem kompositorischen Anspruch durchaus gerecht.

Als Ernst Krének 1937 Deutschland verließ, nahm er Kafkas Motto mit auf die Reise: „Du kannst dich zurückhalten von den Leiden der Welt, das ist dir freigestellt und entspricht deiner Natur. Aber vielleicht ist gerade dieses Zurückhalten das einzige Leid, das du vermeiden könntest“. Er vertonte die fünf Lieder von Kafka in einem expressionistischen Gesangsstil. Stephanie überzeugte hier mit Textverständlichkeit. Überhaupt hält sie siihre Interpretationen von jeglichem aufgesetzten Schöngesang frei und die Deklamation vollkommen in den Vordergrund stellt.

Gideon Klein, zwanzig Jahre jünger als Victor Ullmann, übernahm im Lager diverse künstlerische Funktionen. Der Prager Komponist vertonte 1940 kurz vor seiner Deportation drei Lieder in tschechischer Sprache: von Johann Klaj, Friedrich Hölderlin und Goethe. Seine musikalische Sprache ist kleingliedriger, fragmentarischer als die von Ullmann. Stephanie Haas' Interpretation in der Originalsprache leitete über zu einer zeitgenössischen tschechischen Komposition von Vojtech Saudek, der fünf Szenen von Shakespeare vertonte: Unüberhörbar das Vorbild Leos Janacek, dessen Musik wie kaum eine andere die spezifische Sprache in Rhythmus, Betonung, Klangfarbe zur Grundlage hat. Saudek gelingen große theatralische Momente, so die existentielle minutenlange „Ah!“-Vokalise, die den Wahnsinnsausbruch Macbeth' bedeutet.

Eine weitere Rarität des leider schlecht besuchten, aber begeistert angenommenen Konzertes war das außerordentliche Niveau des Zusammenspiels mit der amerikanischen Pianistin Susan Wenckus: davon träumen SängerInnen. Sie ist in der Lage mit dem Singen zu atmen und darüberhinaus gibt sie mit ihren Reichtum an Klangfarben ein unmißverständliche und überzeugende Impulse. Das Konzert war ein gelungener Beitrag, um den noch großen weißen Fleck in der Geschichte der Komponisten, die der nazistischen Gewalt zum Opfer fielen zu verkleinern.

Ute Schalz-Laurenze