Das Profil ist runter bis auf die Felgen

Nirgendwo sonst in der SPD wird der Konflikt zwischen Traditionalisten und Modernisierern heftiger ausgetragen, wird um Personen und Programme hinterhältiger gekämpft als in Frankfurt am Main  ■ Von Klaus-Peter Klingelschmitt

Der als „Marxist“ apostrophierte Dieter Dehm (SPD), ehemaliger Producer von BAP und Bots, selbsternannter Protestsänger und im Oktober 1994 schon zum zweiten Mal der Verlierer beim Kampf um ein Direktmandat für einen Sitz im Bundestag, ist das Enfant terrible der Frankfurter SPD. Der Genosse Dehm wollte noch Anfang April 1995 zwei Parteikollegen vom rechten „Seeheimer Kreis“ vor den Kadi zerren, weil diese öffentlich erklärt hatten, daß der Stadtverordnete Dehm „alle wesentlichen Programmpunkte der PDS“ vertrete und vor der Bundespräsidentenwahl gar eine Initative für den Kandidaten Stefan Heym (PDS) organisiert habe.

Den „Seeheimern“ Kurt Neumann (MdB) und Hermann Haack (MdB) wollte der promovierte Volkswirt Dehm mit einem Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Verfügung verbieten lassen, diese „Behauptungen“ weiter zu verbreiten. Und Haack, der zu den Autoren einer Analyse des „Seeheimer Kreises“ gehört, in der den „marxistischen Positionen“ von Dehm im besonderen und den Linken in der Partei im allgemeinen die Hauptschuld am verheerenden Zustand der SPD in Frankfurt am Main zugewiesen wurde, sollte auf Antrag von Dehm von einem Gericht auch verboten werden, die noch nicht verteilten Exemplare weiter zu verbreiten. Szenen einer Ehe vor Gericht?

Dem parlamentarischen Geschäftsführer der Bundestagsfraktion der Partei, Peter Struck, platzte der Kragen, nachdem selbst die den Sozialdemokraten nahestehende Frankfurter Rundschau ernüchtert festgestellt hatte, daß das neue Stück aus dem sozialdemokratischen Tollhaus am Main mit dem schlichten Titel „SPD gegen SPD vor Gericht“ einem Offenbarungseid gleichkomme: „Das ist Verzicht auf Politik.“

Struck intervenierte heftig. Der anachronistische Zwergenaufstand der Rechten gegen den Linken wurde in diesen Tagen außergerichtlich beigelegt. Neumann und Haack gaben klein bei und eine säuerliche Ehrenerklärung für Dehm ab – bis zur nächsten grundsätzlichen Auseinandersetzung. Lapidarer Kommentar von Parteichef Rudolf Scharping: „Der Zustand der Partei in der Mainmetropole ist beschämend schlecht.“

Und dieser „Analyse“ hat bislang noch kein Sozialdemokrat in der Stadt der Banken und Bembel widersprochen. In Frankfurt werden noch die ideologischen Schlachten der Vergangenheit geschlagen: realsozialistisch orientierte Linke gegen Rechte aus See- und Bornheim. Verbohrte „Grünfresser“ aus dem Römer gegen eine Handvoll ungeschickter Modernisierer, die die Partei dem Zeitgeist anpassen und für den gutsituierten Mittelstand öffnen wollen. Platzhirsche gegen SeiteneinsteigerInnen.

Dehm krittelt, daß die Rechten die Aufnahme der Verknüpfung der Themenbereiche Ökologie und Ökonomie in die Programmatik der Partei verhindert und so den Boden für den Aufstieg der Bündnisgrünen bereitet hätten. Für die Rechten haben dagegen gerade Genossen wie Dehm oder auch Andreas von Schoeler, dem sie „Yuppietum“ vorwerfen, die Grünen zu lange hofiert und so die eigene Partei den StammwählerInnen entfremdet. Da wurde von fast allen Genossen der Sündenbock Karl-Heinz Berkemeyer zum Rücktritt aufgefordert. Der Stadtverordnete hatte mit seiner Reise nach Albano Terme die Wiederwahl der Grünenpolitikerin Margarete Nimsch zur Frauen- und Gesundheitsdezernentin verhindert und so der rot-grünen Koalition den endgültigen Todesstoß versetzt. Eine Minderheit in der Partei forderte den Planungsdezernenten und Modernisierer Martin Wenz (SPD) zum Rücktritt auf, weil der bei seiner Wiederwahl die Stimmen der rechtsradikalen „Republikaner“ billigend in Kauf genommen hatte. Und wieder andere wollen die „unfähige“ Fraktionsspitze im Römer komplett auswechseln. Chaos, sagt ein altgedienter Sozialdemokrat aus dem Römer, sei noch ein zu milder Ausdruck für das, was sich derzeit bei der SPD im Kreisverband Frankfurt am Main abspiele: „Das ist der archaische Kampf jeder gegen jeden.“ Das Profil der SPD sei „bis auf die Felgen heruntergefahren.“

Neue Reifen aufziehen? Doch der Demontage folgt nicht so ohne weiteres die Montage. Auf Druck der Parteiführung wurde die dringend notwendige Debatte über den Zustand der SPD in Frankfurt, die am ersten Maiwochenende auf dem Kreisparteitag stattfinden sollte, schlicht verschoben. Öffentlich selbst zerfleischen wollen sich die Sozialdemokraten erst nach der ersten Direktwahl des OB Ende Juni 1995. Fast einstimmig wählten die Delegierten den zurückgetretenen OB Andreas von Schoeler zu ihrem Kandidaten: Waffenstillstand.

Eine charismatische Lichtgestalt, die den maroden Laden wieder auf Vordermann bringen und die narbenbedeckten Grabenkämpfer versöhnen könnte, ist auch Andreas von Schoeler nicht. Von außen müsse der Wunderheiler kommen, hieß es schon vor den Kommunalwahlen 1989. Dann kam Volker Hauff „von außen“ – und wurde nach knapp zwei Jahren von den eigenen Genossen politisch gemeuchelt und dann aus der Stadt getrieben.

Heute steht der schöne Andy vor einem noch größeren Scherbenhaufen als Hauff vor vier Jahren. Wenn die SPD bei den kommenden Wahlen weiter so erodiere wie bisher, so ein Bündnisgrüner aus dem Römer desillusioniert, komme die Partei 1997 rein rechnerisch kaum noch als Koalitionspartner in Frage. In einigen Stadtteilen, etwa im Nordend oder in Bornheim, haben die Bündnisgrünen die Sozialdemokraten bereits überflügelt. Und in den traditionellen Arbeitervierteln, etwa im Gallus oder in Fechenheim, bleiben die ExwählerInnen der SPD an Wahltagen zu Hause oder votieren für rechtsradikale Parteien.

Frankfurt ist die US-amerikanischste Großstadt der Republik. Der ehemalige Oberbürgermeister Hauff sah in ihr das „Experimentierfeld“ für den notwendigen, der ökonomischen Entwicklung in Deutschland Rechnung tragenden Wandel der über 100jährigen Arbeiterpartei hin zu einer modernen Metropolenpartei. Das „Experiment“ kann als gescheitert bezeichnet werden: Der unfruchtbare Antagonismus zwischen den Modernisierern und all den Genossen in Amt und Würden, die sich gegen jede Veränderung sperrten und noch sperren, zerriß die Partei vor Ort in mehrere Lager.

Doch nicht nur in Frankfurt rutschte die SPD auf blankem Hosenboden in den Keller. Auch in den Städten Kassel, Darmstadt, Wiesbaden und Rüsselsheim bei den letzten Kommunalwahlen und hessenweit bei den letzen Landtagswahlen erzielte die SPD ihre schlechtesten Wahlergebnisse seit Kriegsende.

Parteichef Rudolf Scharping und Bundesgeschäftsführer Günter Verheugen setzen dennoch weiter auf die Modernisierung der alten Tante SPD. Aber: „Auf dem Weg zur Erneuerung dürfen wir unsere alte Klientel nicht vernachlässigen“, predigt etwa der gleichfalls einem Verband von alten Grabenkriegern vorsitzende hessische Ministerpräsident Hans Eichel, ein „Enkel“ und Modernisierer. Doch ein Rezept dafür, wie man die alte Klientel halten und die Partei gleichzeitig für die meinungsbildenden Schichten vor allem in den Metropolen interessant machen könnte, hat auch Eichel nicht. Der nur durch den Stimmenzuwachs der Bündnisgrünen wieder zu Ministerpräsidentenehren gelangte Eichel stützt sich im Konfliktfall lieber auf die Platzhirsche aus dem konservativen Norden des Landes und aus der Fraktion. Obgleich er sich als „Linken“ tituliert, gehen die Modernisierer vor allem aus Südhessen, denen die sozialökologische Reformpolitik inzwischen „Herzensangelegenheit“ geworden ist, nicht nur bei der Verteilung von MinisterInnenposten leer aus. Auch im Konfliktfall Ökonomie gegen Ökologie setzte Eichel in der Vergangenheit, mit den Gewerkschaften und den TraditionspolitikerInnen im Nacken, auf die Ökonomie: Transrapid, PVC, Cargo City Süd am Flughafen.

Auch der Versuch, die sklerotisierte Partei in Hessen für SeiteneinsteigerInnen und Fachleute zu öffnen, scheiterte kläglich. Die MinisterInnen, die Eichel 1991 von außen in sein Kabinett holte, haben inzwischen alle das Handtuch geworfen – zuletzt die promovierte Soziologin und Wissenschaftsministerin Evelies Mayer.

Im Grunde hat die Partei die notwendige Modernisierung zehn Jahre lang verschlafen. Denn dort, wo die meisten „Enkel“ bei der SPD heute hin wollen, sitzen bereits die Bündnisgrünen. Die sind nicht nur zu den neuen Liberalen avanciert und arbeiten, zur Freude der gutsituierten MetropolenbewohnerInnen, die weltoffen und zeitgeistlich, aber ohne allzuviel Fluglärm und Luftverschmutzung leben wollen, an der Versöhnung von Ökologie und Ökonomie. Gerade mit dem Stadtkämmerer Tom Koenigs in Frankfurt und dem hessischen Justiz- und Europaminister Rupert von Plottnitz treten die Bündnisgrünen den Beweis dafür an, daß sie die Nische längst verlassen haben und alle Politikfelder besetzen können. Die „Experimente“ der Bündnisgrünen in der multikulturellen Wirtschafts- und Finanzmetropole funktionieren. Und nach dem Abgang der Fundamentalisten verfügt die Partei, im Gegensatz zur SPD, inzwischen über eine gepflegte Streitkultur, die von den harmoniesüchtigen deutschen WählerInnen immer öfter goutiert wird.

Das nötigt auch Konservativen Respekt ab. Die „neuen Preußen“ nannte selbst die FAZ die Bündnisgrünen in Frankfurt. Da bleibt kaum noch Raum für eine zwischen Tradition und Moderne, zwischen ökologischem Aufbruch und konservativ-fundamentalistischem Beharren, zwischen Rappe und Andreas von Schoeler, zwischen Sonntagsreden und hausgemachtem Chaos hin und her pendelnde SPD. Die Bündnisgrünen sind inzwischen in den Metropolen die Modernisiererpartei. Und die CDU bleibt vorerst die Partei des Konservativismus. „Parmesan und Partisan – alles wird zerrieben“, dichtete der Frankfurter Kabarettist und Fischerman's Friend Matthias Beltz. Er hat die Sozialdemokraten vergessen.

Daß die Existenz der Partei auf dem Spiel steht, wenn sie es nicht schafft, sich tatsächlich zu modernisieren und auch wieder zu intellektualisieren, haben nicht nur Verheugen und Scharping erkannt. Auch in Hessen dämmert es einigen GenossInnen, daß es so wie bisher nicht weitergeht.

Die SPD habe ihre Lektion gelernt, sagte der einflußreiche, bärbeißige Fraktionschef Armin Clauss zur Eröffnung der neuen Legislaturperiode im Landtag: „Wir werden auf keinen Fall, auch nicht im Unterbewußtsein, folgende Arbeitsteilung akzeptieren: Die CDU kümmert sich um die, denen es gut und sehr gut geht, die FDP um die Besserverdienenden, die Grünen um die postmateriellen Werte und die SPD um die Armen und Entrechteten des Landes.“ Und Clauss deutete auch an, mit wem die Partei beim Kampf um die WählerInnenstimmen vor allem in den Metropolen in Konkurrenz zu treten habe: mit den Bündnisgrünen. „Unserem Koalitionspartner möchte ich in aller Offenheit sagen, daß es keinen Grund gibt, übermütig zu werden. Die Grünen sind eine ganz normale Partei – und wir werden mit ihnen wie mit einem normalen Koalitionspartner umzugehen wissen.“ Bei diesen Worten haben die Rechten in der Frankfurter SPD beifällig genickt: Eine Partei, ein Gegner.

Doch zunächst einmal müssen die Sozialdemokraten in Frankfurt dankbar vor Tom Koenigs, Margarete Nimsch und Daniel Cohn- Bendit das Knie beugen. Denn nur der Verzicht der Bündnisgrünen auf einen eigenen Kandidaten bei den anstehenden OB-Wahlen hält – bei gleichzeitig avisierter Unterstützung für Andreas von Schoeler – die sozialdemokratische Karte überhaupt noch im Spiel.

Die von Clauss anvisierte Reokkupation der von den Grünen besetzten Politikfelder dürfte der SPD demnach heute noch schwerer fallen als die Reprofilierung bei der bröckelnden Stammwählerschaft, die den freien Fall der Partei immerhin noch an der 30-Prozent-Marke gestoppt hat. Für einen Einbruch in das grüne Lager mangelt es der SPD nicht nur in Frankfurt und in Hessen an überzeugendem Personal. Auch programmatisch hat die Partei nach den Eiertänzen der Vergangenheit der Wählerschaft der Bündnisgrünen nur wenig Glaubwürdiges zu bieten.

Doch wie die Welt sich auch immer drehen mag: Für Dieter Dehm ist und bleibt die SPD die „Partei für demokratische Sozialisten“. Für den Bundestagsabgeordneten aus dem Frankfurter Speckgürtel, Dietrich Sperling, bleibt sie auch deshalb nicht nur in Frankfurt „bieder, provinziell, hausbacken und unattraktiv“. SPD 1995 live und in „mieser Verfassung“ (Sperling).