■ Sterbehilfe in Deutschland
: Halbe Einsicht – vorsichtshalber

Die Kemptener Richter haben in einem der merkwürdigsten Sterbehilfeprozesse der jüngeren Rechtsgeschichte gerade noch einmal die Notbremse gezogen. Nach der Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils durch den BGH folgte nun der Freispruch. Es ist allerdings ein Freispruch, den es – folgt man dem gesunden Menschenverstand – nie hätte geben dürfen. Weil es nämlich in diesem konkreten Fall nie zu einer Verurteilung hätte kommen dürfen.

Die beiden Beschuldigten hatten nach zweieinhalb Jahren, in denen eine unheilbar kranke Koma-Patientin dahinsiechte, deren Leiden nicht mehr mitansehen können und gefordert, die künstliche Ernährung einzustellen. Eine durchaus nachvollziehbare Forderung. Doch obgleich dieser Anregung nicht gefolgt wurde, kam es zur Anklageerhebung und zur Verurteilung. Keine Frage: Der Umgang mit dem schmalen Grat zwischen Leben und Sterben wird immer ein Grenzbereich bleiben, und gerade in Deutschland ist höchste Wachsamkeit im Umgang mit diesem Grenzbereich von besonderer Bedeutung. So hatte der BGH festgestellt, daß im vorliegenden Fall der Sterbevorgang noch nicht eingesetzt hatte. Abgesehen von der künstlichen Ernährung sei die Patientin lebensfähig gewesen. Daher habe eine Sterbehilfe im eigentlichen Sinn nicht vorgelegen. Aber der BGH stellte auch fest, daß bei einem unheilbar Kranken der Abbruch einer ärztlichen Behandlung – im vorliegenden Fall der künstlichen Ernährung – ausnahmsweise auch dann zulässig sein könne, wenn die Voraussetzungen der Richtlinien der Bundesärztekammer für Sterbehilfe nicht vorliegen. Entscheidend sei der mutmaßliche Wille des Kranken. Und genau der war von den Kemptener Richtern gar nicht geprüft worden.

Was aber treibt eine Staatsanwaltschaft um, die auch nach einer solch differenzierten Entscheidung in Karlsruhe erneut so hart und unnachgiebig in das Verfahren einsteigt, die zigfach hört, was der Wunsch der Patientin war, und dann erneut die gleiche Strafe fordert? Auf den Gerichtsfluren in Kempten wurde schon in der ersten Verfahrensrunde gemunkelt, in der Memminger Nachbarstadt wolle man wohl auch einmal ein wenig Rechtsgeschichte (als Hardliner) schreiben.

Zu Recht hat das Kemptener Gericht jetzt noch einmal darauf verwiesen, daß Angehörige und Ärzte nicht nach Gutdünken über das Leben eines Patienten entscheiden dürfen. Aber, daß die Richter trotz ihres Freispruchs nach wie vor den Tatbestand des versuchten Totschlags erfüllt sehen, deutet auch darauf hin, daß man sich mit dem neuen Verfahren nur nicht noch einmal bundesweit blamieren wollte. Eine halbe Einsicht also nur – vorsichtshalber! Klaus Wittmann