Ausblick wie aus dem Adlerhorst

Ligurien ist zu jeder Jahreszeit „am schönsten“! Eine Wandertour auf schwierigem Gelände durch Cinque Terre. Eng ist es, und dem Gegenverkehr muß man ausweichen  ■ Von Roberto Hohrein

Seit Jahren kursiert die Ligurische Küste als ein Geheimtip unter Wanderern. Als absolute Schönheit aber gelten die fünf berühmten Dörfer, die die Italiener „Cinque Terre“ nennen. Die gut markierten Wege zwischen Monterosso, Vernazza, Corniglia, Manerola und Riomaggiore sind für geübte Wanderer ein Wadenschmaus, für ungeübte eine Herausforderung. Seit letztem Jahr sind jedoch nicht mehr alle Wanderwege begehbar. Wegen Erdrutschen mußten einige der beliebtesten Strecken, darunter die Via del Amore, gesperrt werden. Trotzdem, Cinque Terre ist eine Wanderreise wert.

Vor gut 20 Minuten hat der Zug in der Bahnstation von Riomaggiore den großen Pulk buntgekleideter Mitteleuropäer ausgeworfen. Bereits beim Gang durch die schmalen Gassen des am Steilhang liegenden Dorfes trennt sich die Spreu vom Weizen. Die mit den Wanderstiefeln an den Füßen und den kleinen Rucksäckchen auf dem Rücken stürmen voran wie Pferde, die man aus einer Koppel läßt. Die Touristen mit den Halbschuhen und der Jacke überm Arm bleiben schlendernd zurück. Bergauf stürmend machen sich die Wanderer gegenseitig auf die großen und kleinen Schönheiten des Dorfes aufmerksam. Die farbigen Hausfassaden mit der italienobgligaten Wäsche davor. Zitronen- und Orangenbäume im Garten. An einer Spitzkehre das dürre, monatealte und mit unbeschreiblichen Gegenständen behängte Gerüst eines mediterranen Weihnachtsbaumes. Die duftenden Obststände vor den Lebensmittellädchen. Die kleinen, in Stein eingemeißelten Madonnenaltäre. Die Wanderer betrachten sich alles, aber die Kamera bleibt verpackt. Erst wird gelaufen, fotografiert wird bei der Rast. Schließlich ist der Tag noch lang. Kurz darauf werden dann aber doch zum ersten Mal die Kameras gezückt. Weniger zur Freude des betrachtenden Auges, vielmehr zur Dokumentation. Das glaubt einem zu Hause sonst doch keiner: Die malerische Via del Amore ist mit einer häßlichen, rostigen, stacheldrahtbewehrten Bauzaunmatte verrammelt. Wegen der Geländeabstürze geschlossen, verkündet ein Schild in italienisch den Grund. Die Liebespärchen der lauen Frühlingsnächte, die dem Weg seinen Namen gaben, suchen sich nun andere lauschige Plätzchen. Und die Wanderer müssen eine unerwartet plötzliche Entscheidung treffen. Zurück zum Bahnhof laufen, mit dem Zug nach Corniglia fahren – denn die Strecke zwischen Manerolo und Corniglia ist ebenfalls wegen der Bergrutsche chiuso – und von dort am Meer entlang nach Monterosso wandern? Oder sollte man die Alternative wagen und den beschwerlichen Gang über den Berg wählen? Für gut trainierte Wanderer ist die einzig mögliche Ausweichstrecke über den Berg eine echte Herausforderung. Für Untrainierte in Halbschuhen ohne Wasserflasche im Gepäck kann sie zur unvergeßlichen Strapaze werden. Nach kurzer Diskussion siegt der Tatendrang der gerade mal leicht angewärmten Wanderbeine.

Hunderte von grasumsäumten Treppenstufen aus Naturgestein führen durch die Terrassenweinberge steil nach oben. Eng ist's, und bei Gegenverkehr muß man stehenbleiben, ausweichen, sich weit in den Hang hineindrücken, um Platz zu machen für die Einheimischen, die zu dieser frühen Zeit bereits aus den Weinbergen und Gärten von der Arbeit zurückkehren.

Nach der Rast im Schatten der Olivenbäume geht es weiter wie vorher. Bergauf, immer nur bergauf, zwischen Trockenmauern und felsigen Wegrainen. Erst nach langem Aufstieg gibt die Landschaft den Muskeln der Füße eine Chance auf die langersehnte Abwechslung. Es wird ebener. Aber auch jetzt müssen die Blicke noch fest am Boden bleiben, denn die Wege sind schmal, führen des öfteren auf der Kante einer Trockenmauer entlang. Jetzt nur nicht hinunterschauen! Oder gerade doch? Zweihundert, dreihundert Meter weiter unten brandet das Meer. Der Weg wird nun noch schmaler, der Pfad wird zum mit rutschigem Kieselsand bedeckten Pfädchen, das sich schlangenartig zwischen den Rebstöcken zu verlieren scheint. „Nur für Schwindelfreie – Therapiegelegenheit für Menschen mit Höhenangst“ sollte eigentlich am Beginn des Aufstieges geschrieben stehen.

Nach drei Stunden beginnt der Abstieg. Weit, weit unten liegt Corniglia. Wenig später entscheidet sich das vollerblühte Wandererherz dann doch dafür, die „nur eineinhalb Stunden kurze Strecke“ von Corniglia nach Vernazza dranzuhängen. Zumal sie keine nennenswerten Schwierigkeiten bietet, dafür aber neue Ausblicke und Gerüche der Landschaft. Abgesehen davon wäre der Weg von Corniglia hinunter zum Bahnhof auch nicht ohne. Zumindest nicht ohne Stufen. Sind es dreihundertsechzig oder dreihundertsiebenundsiebzig? Niemand geht sie ein zweites Mal, nur um recht zu haben. Roberto Hohrein