Nachschlag

■ Volksstücke überall: Beim Theatertreffen und im MGT

Auch das Maxim Gorki Theater will während des Theatertreffens beachtet werden, obwohl es weder eingeladen ist, noch Gastspiele beherbergt. Und so setzte es am Freitag eine Premiere an, die auch tatsächlich zum Festival paßt – dramaturgisch gesehen. Denn als Volksstück-Klassiker ergänzt Marieluise Fleißers „Fegefeuer in Ingolstadt“ den zufälligen Schwerpunkt der nach inszenierungsästhetischen Kriterien ausgewählten Gastspielreihe aufs Sinnfälligste, werden mit Stücken von Ödön von Horváth, Franz Xaver Kroetz und Werner Schwab doch die Entwicklungsstufen dieses Genres seit der Weimarer Zeit repräsentiert.

Ähnlich wie Horváth, dessen „Glaube Liebe Hoffnung“ aus Dresden am Wochenende im Tempodrom zu sehen war, beschrieb Fleißer die Tragik eines Kleinbürgertums, das nach den Moralvorstellungen der Wohlstandsmenschen leben will, ohne eine solche Moral jedoch bezahlen zu können. Wenn die Schülerin Olga im „Fegefeuer“ das Geld für eine Abtreibung hätte, müßte sie sich nicht als ,gefallenes‘ Mädchen demütigen lassen. Oft gibt es auch irreale Elemente in diesen Stücken, eine selbstverständliche Volksmystik, die die falsche Moral und den gespreizten, dialektverfremdeten Bildungsjargon, in dem sich die Figuren verständlich machen wollen, ad absurdum führt. Die Erstfassung von Fleißers „Fegefeuer“ wurde 1926 uraufgeführt, die im MGT gezeigte Neufassung 1971. Um diese Zeit, und durchaus in der Tradition von Fleißer, begann die Dramatikerkarriere des Franz Xaver K. Er aber zielt geheimnislos aufs Didaktische. Auch wird seine Inspiration allmählich kurzatmig, zunehmend sondert er Sketche ab. „Der Drang“, sein neuestes Stück, das hier letzte Woche in des Autors Münchner Inszenierung gezeigt wurde, ist kaum mehr als aufklärerischer Boulevard, in dessen Zentrum ein alternder Erotomane steht.

Wer das Genre indessen virtuos in die Gegenwart katapultiert hat, ist Werner Schwab. Irrtümlich gelten seine ,Fäkaliendramen‘ als traditionslose Phänomene. Schwabs Figuren sind Lemuren der Postmoderne, die mangels intelligenter Ignoranz keine Grenzen mehr finden. Triebgesteuert taumeln sie durch eine Pseudo-Wirklichkeit, die nur noch aus Sprache besteht – einer Sprache, in der man eine pervertierte Form des volksstückhaften Bildungsjargons erkennen kann. „Die Wörter verlassen die Sachen und die Ketten zu den Sachen und heißen nichts mehr, heißen gar nichts mehr und sind eine Unterhaltung“ (aus: „Hochschwab“). Von heute bis Mittwoch sind seine „Präsidentinnen“ in Peter Wittenbergs Wiener Inszenierung im BE zu sehen.

Sowohl Kroetz als auch Schwab haben derzeit Konjunktur, und insofern war die „Fegefeuer“-Inszenierung prima terminiert, um Wurzeln und Mutation des Volksstückes hier in Berlin nachvollziehbar zu machen. Ästhetisch ist die Inszenierung von Lore Stefanek kaum ähnlich anregend. Die Regisseurin unterrichtet an der Schauspielschule Ernst Busch, und daß sie fast ausschließlich StudentInnen besetzte, war ihr bester Einfall. Deren reduzierter und dynamischer Stil prägt die Aufführung, die sich ansonsten ordentlich vom Blatt vollzieht. Das doppelte Fegefeuer, das die von ihren Eltern und den Verhältnissen selbst unterdrückten MitschülerInnen dem Außenseiter Roelle und der schwangeren Olga bereiten, ist in Stefaneks Regie kaum mehr als eine Behauptung. Zu der geballten Solidaritätslosigkeit, die den einen in Kriminalität und Spiritismus, die andere fast ins Wasser treibt, zu diesen unverhohlen exerzierten Machtspielen hat sie keine Vision. Schade. Petra Kohse

„Fegefeuer in Ingolstadt“ von Marieluise Fleißer, heute und 26.5., 19.30 Uhr, Maxim Gorki Theater, Unter den Linden, Mitte