„Generalpräventiver Eingriff“

23jähriger Totalverweigerer brach aus Gewissensgründen seinen Zivildienst ab und wurde gestern dafür zu 90 Tagessätzen à 20 Mark verurteilt / Eifrige Staatsanwältin hatte Freiheitsstrafe beantragt  ■ Von Peter Lerch

„Meine Geduld geht langsam dem Ende zu“, nörgelte der Richter, als immer mehr Zuhörer in den Sitzungssaal des Amtsgerichts drängten. Dort fand gestern der Prozeß gegen den 23jährigen Totalverweigerer Carsten Dannel statt, dem die Staatsanwaltschaft Dienstflucht zur Last legte. „Ich stehe hier vor Gericht für einen Akt der Verweigerung aus Gewissensgründen“, sagte Dannel und unterstrich damit seine Bereitschaft, aus moralischen Motiven heraus Sanktionen und Nachteile jeder Art in Kauf zu nehmen. Bereits die Tatsache, daß man die Abneigung gegen das Töten vor einem Gesinnungsprüfungsausschuß darlegen muß, bezeichnete der Angeklagte als „in höchstem Maße absurd“.

Carsten D., der schon im Februar 1993 einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung gestellt hatte, wurde trotz seines KDV- Antrags Anfang April 1993 in die Bundeswehrkaserne nach Perleberg einberufen. Dort verweigerte er die Annahme von Waffe und Uniform. Nachdem man ihn vergeblich mit Arrest bedroht hatte, wurde Carsten Dannel beurlaubt. Einen Monat später begann er den Zivildienst im Rudolf-Virchow- Krankenhaus. Da es in der drittgrößten Dienststelle für Zivildienstleistende in Berlin keinen Vertrauensmann für die Belange der mehr als siebzig Zivis gab, erklärte er sich selbst bereit, für dieses Amt zu kandidieren. Das war der Personalleitung offensichtlich zu viel. Ohne eine weitere als die Wochen zurückliegende Einstellungsuntersuchung diagnostizierte der Personalarzt der Klinik bei Carsten Dannel einen Meniskusschaden und schrieb ihn für zwei Monate krank. Lange genug, um ihn von den Wahlen zum Vertrauensmann fernzuhalten.

Unterdessen hatte der 23jährige Student an den organisatorischen Vorbereitungen des bundesweiten Zivi-Streiks gegen den Bundeswehreinsatz in Somalia teilgenommen, bei dem die Zivis auch auf ihre Rechtlosigkeit aufmerksam machten. Mit spektakulären Aktionen protestierten sie gegen Zwangsdienst und Militär. Für Carsten Dannel führte das nicht nur zu einer Disziplinarstrafe und einem Ordnungsgespräch, sondern zu einem erneuten Dienstwechsel in ein Seniorenheim.

Nach einer weiteren Aktion „Nackte Tatsachen über den Zivildienst“ auf dem Breitscheidplatz, die als Verunglimpfung des Zivildienstes geahndet wurde, sollte Carsten D. erneut versetzt werden. Diesmal in das Bundesamt für Zivildienst. Mit diesem angekündigten dritten Dienststellenwechsel war nun auch der letzte Aspekt hinfällig geworden, der ihn noch vor der konsequentesten Art der Kriegsdienstverweigerung zögern ließ. „In meiner KDV-Erklärung hatte ich ausdrücklich betont, daß ich den staatlichen Zwangs- und Militärdienst ablehne und mich allein mein soziales Engagement, die Pflege und Unterstützung Hilfsbedürftiger an der Totalverweigerung hindere“, erklärte Carsten Dannel gestern vor Gericht. Er habe im Laufe seiner Tätigkeit ohnehin festgestellt, daß Zivis nicht, wie vorgeschrieben, arbeitsmarktneutral eingesetzt werden, sondern als billige Arbeitskräfte im Pflegebereich Fachkräfte ersetzen.

Obwohl Dannel sogar in einem Brief vom bündnisgrünen Bundestagsabgeordneten Winfried Nachtwei moralische Schützenhilfe bekam („Nur konsequente Totalverweigerung macht das Kriegführen unmöglich“, schrieb das Mitglied des Verteidigungsausschusses), fühlte sich die Staatsanwältin berufen, „generalpräventiv einzugreifen“. Sie forderte für Carsten Dannel eine Freiheitsstrafe von 6 Monaten auf Bewährung. Verteidiger Wolfgang Kaleck konnte keinen Grund erkennen, der eine Freiheitsstrafe rechtfertigen würde. Deshalb beantragte er für seinen Mandanten einen Freispruch aus Gewissensgründen. Der Richter verurteilte Dannel wegen Dienstflucht zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen à 20 Mark. Strafmildernd sei zu bewerten, daß der Angeklagte den größten Teil seines Zivildienstes abgeleistet habe.