Das Weiße Haus im Fadenkreuz Von Andrea Böhm

Jetzt ist es endgültig vorbei. Kein „Schatz-laß-uns-mal-am-Weißen- Haus-vorbeifahren“ mehr. Pennsylvania Avenue, Adresse des US- Präsidenten, ist ab sofort für den Autoverkehr zwischen der 15. und 17. Straße gesperrt. So genau interessiert das in Deutschland wahrscheinlich keinen, aber für den Washingtoner Verkehrsteilnehmer und Bürger ist das eine Zäsur. Nicht nur verkehrstechnisch, sondern auch ideologisch. Daß man den Präsidenten durch Bodyguards schützt, ist angesichts der Zielfertigkeit so mancher Landsleute weithin akzeptiert; daß man vor dem Weißen Haus Straßen sperrt, ist einmalig.

Die Verbreitung des „Drive- By-Shooting“ hat dem Secret Service offenbar zu denken gegeben. Vielleicht war es auch die Angst vor Autobomben, deren Zutaten mittlerweile ein paar Millionen Lesern des Computernetzes „Internet“ bekannt sein dürften. Oder vor frustrierten Armeeveteranen, die, wie letzte Woche in San Diego geschehen, einen Panzer klauen und ein paar Dutzend Autos, Zäune und Bushaltestellen platt fahren. Oder vor wild entschlossenen Bürgermilizen, die, das Gewehr geschultert, auf Washington marschieren wollen, um Präsident und Parlament wegen Hochverrats mal eben zu exekutieren.

Bemißt man die Anschlagsgefahr auf das Weiße Haus anhand der Erfahrungen der letzten Monate, dann machen die Straßensperren allerdings keinen Sinn. Denn die Autofahrer auf der Pennsylvania Avenue haben sich bislang nichts zuschulden kommen lassen. Wenn, dann drohte dem Präsidenten Gefahr von Fußgängern, die mit einer in den USA bekanntermaßen leicht zu erwerbenden Schußwaffe ein paar Runden auf die präsidialen Gemächer feuerten – oder von Piloten, die mit ihren Flugzeugen Sturzflüge auf das Weiße Haus versuchten.

Gegen erstere hilft eine strengere Waffenkontrolle, woran die Clinton-Administration, wenn auch zaghaft, arbeitet; gegen letzteres ein städtisches Luftabwehrsystem (zu teuer) oder ein paar Hindernisse in der Einflugschneise. Das wäre, wenn man genau auf das Weiße Haus zuhalten will, die 16. Straße, die man dann ebenfalls sperren und aufforsten müßte. Billiger käme vermutlich eine Camouflage-Verpackung à la Christo, die zukünftigen Kamikazepiloten den Anflug erschweren würde.

Was immer sich die Sicherheitsbeamten bei ihrer Straßensperre gedacht und erhofft haben mögen – ruhiger ist die Pennsylvania Avenue jetzt keineswegs. Das vom Auto befreite Pflaster, unter dem in Washington nicht der Strand, sondern der Sumpf liegt, wurde sofort von Rollschuhfahrern und Skateboardern besetzt. Die drehen ihre Pirouetten nun für die Clintons auf der einen Seite und für die Dauerzaungäste des Weißen Hauses auf der anderen Seite: ein paar Vietnamkriegs-Veteranen, ein paar Obdachlose, Alie aus Afghanistan, der Krawatten verkauft, Yadullah, ein kurdischer Immigrant, der Touristen mit lebensgroßen Clinton-Puppen fotografiert – und Ellen, die hier seit elf Jahren eine Mahnwache gegen den Atomkrieg hält.

Die Stimmung ist locker, die Luft ist rein, die Sonne scheint – und wenn plötzlich ein Flugzeug verdächtig tief von der 16. Straße her angeflogen kommt, dann wissen alle, was zu tun ist: flach auf den Boden werfen.