■ Vorlesungskritik
: Anstrengung als Lebensform

Zu den Eigenschaften aller Wissenschaft gehört es bekanntlich, mehr Fragen aufzuwerfen als zu beantworten. Bei Dietmar Kampers Vortrag zu „Rilkes Testament: Über die Assoziationen von Arbeit und Liebe“ wurde das so deutlich wie selten. Eine Stunde lang rauschte ein Strom wohlklingender Worte, zu etwa einem Drittel Rilke-Zitate, die in Abgründe von Sinn und Tiefe blicken ließen. Jene Vorliebe für das Vage und Undeutliche, die Rilkes frühe Lyrik kennzeichnet, prägte auch den Duktus des Vortrags. Immerhin wurde deutlich, daß es in irgendeiner Weise um Arbeit und Liebe und um „Anstrengung als Lebensform“ ging.

Der Vorlesungskritiker war zeitweise einer Kapitulation nahe. Zum Durchhalten animierte das Eingeständnis Kampers, selbst er, der große Kultursoziologe und einer der Gründerväter der Historischen Anthropologie, habe Rilkes Werk „Das Testament“ beim ersten Lesen nicht verstanden. Der Kritiker tat, was Studenten immer machen, wenn sie nichts verstehen. Er schrieb ziemlich viel mit.

Soweit sich daraus rekonstruieren läßt, bezeichnete Rilke in besagtem „Testament“ die Feindschaft zwischen Leben und der großen Arbeit als „einzigen Konflikt meines Lebens, alles andere sind Aufgaben“. Die Arbeit, so Kamper, sei für Rilke „die vollkommene Selbstverausgabung um der Vervollkommnung des Selbst willen“, die Liebe hingegen „der gelebte Verzicht auf das Objekt der Begierde“ mit dem Ziel, „liebend sich vom Geliebten zu befreien“.

Nun sollte man denken, fuhr Kamper fort, durch die Assoziation von Arbeit und Liebe, „schon getrennt erfolgversprechende Todesüberwindungen“, ließe sich der Effekt potenzieren. Doch bei Rilke trete das Gegenteil ein, „Tod und Sterblichkeit treten aufs neue in ihr Recht“. Selbst in einem Beileidsbrief wußte Rilke nichts Aufmunternderes zu sagen, als daß aller Trost trübe sei. In seinen Duineser Elegien hat er „die Kategorie des schicksallosen Schicksals mit reiner Kontingenz umschrieben“, dichtete der Soziologe. „Aber dieses“, heißt es da, „ein Mal gewesen zu sein, wenn auch nur ein Mal: irdisch gewesen zu sein, scheint nicht widerrufbar.“

Rilkes Konzept der „Anstrengung als Lebensform“, der auch bei Thomas Mann anzutreffende Wille, „unter äußerster Anstrengung das Beste zu leisten“, ist für Kamper eine „Gegenwehr gegen die Abstraktion der Arbeit in den Fabriken“. Symmetrisch ist das Verhältnis von Arbeit und Liebe bei Rilke aber nicht. „Er hat sich für die Arbeit entschieden“, die für ihn eine Form der Liebe sei. Darin unterscheide sich Rilke, dessen Werken man das Angestrengte bisweilen schon anmerke, vom Genie – denn ein solches, ein „Günstling der Natur“ im Kantschen Sinne, arbeite nicht.

Daß auch nach der Diskussion fast alles unklar blieb, liegt in der Natur der Sache, läßt sich doch die „Größe des reinen Verhängnisses“ nicht in Worte kleiden. „Das Letzte steht auch dort nicht“, schrieb Rilke in einem Brief über das „Testament“, „Gott verhüte, daß es je in Worte käme. Ich ertrüge es nicht.“ Ralph Bollmann

wird fortgesetzt