Anschluß verpaßt

■ Trotz aller Interaktivitäten hinken die deutschen Multimedia-Versuche der Entwicklung nur hinterher

Der Sargnagel für die herkömmliche Fernsehunterhaltung ist fingernagelgroß und kostet knapp 50 Mark. Sein Name: MPEG-2. Hersteller: der amerikanische PC-Gigant International Business Machines, besser bekannt als IBM.

Als Grundbaustein von Computern, CD-Laufwerken, TV- Empfangsgeräten und Spielekonsolen wandelt der MPEG-2-Chip komprimierte Datenmassen in bewegte Bilder um. Was heute nur in Labors funktioniert – die Digitalübertragung von Bewegtbildern zum Beispiel über das globale Computernetzwerk „Internet“ – wird morgen als interaktives „Video On Demand“ oder „Teleshopping“ einen Gutteil des althergebrachten TV-Konsums ersetzen.

Solch ein Chip schlägt seit wenigen Tagen als Herzstück in einem digitalen Empfangsgerät, das der Fürther Fernsehbauer Grundig noch 1995 in Serie bauen will: eine „Set-Top-Box“ zum Empfang der vielbeschworenen 500 TV- und Spiele-Kanäle. Grundig und dessen niederländische Mutter Philips spielen deshalb eine zentrale Rolle in den Plänen der deutschen Telekom bei der Erprobung der neuartigen TV-Dienste in Deutschland. An sechs Standorten soll das interaktive Fernsehen derzeit getestet werden.

Die Entwicklung einer heimischen Set-Top-Box ist derzeit allerdings der einzige Lichtblick in der deutschen Medienevolution. Mit Grundig, der Stuttgarter Alcatel SEL oder auch dem Münchner Telekommunikationskonzern Siemens schafften zwar mehrere potente deutsche Elektronikhersteller den Anschluß an den rasenden Multimedia-Zug, doch die standortpolitisch forcierten Multimedia- Projekte der Telekom zeichnen sich inhaltlich nur durch undurchsichtige Planung, Organisation und Durchführung aus. Das liegt an der bevorstehenden Privatisierung der Telekom, die ihre digitalen Pfründen gegen drohende Konkurrenz absichern will. Das liegt aber auch an so manchem ehrgeizigen Parteipolitiker, der wohl schon von multimedialen Sprachrohren für die „brave new world“ träumt.

Beispiel Bayern: Auf Druck von Edmund „ARD-Terminator“ Stoiber und dessen Staatskanzlei wurden dort die beiden Projektstandorte München und Nürnberg zwangsvereinigt, damit die in München beheimatete Kirch-Familie zum Zuge kommen kann. Das riesige Spielfilmarsenal von Leo Kirch schreit geradezu nach einer Verwertung – auch wenn ungeklärt ist, ob Kirch tatsächlich die digitalen Ausstrahlungsrechte für die Hollywood-Konserven besitzt.

Dieses multimediale Rechte- Problem gehört zu den zentralen Fragen, die kurz vor weiteren Versuchsstarts in diesem Sommer noch ungelöst sind. Völlig in der Luft hängt auch, ob die verschiedenen Versuche untereinander kompatibel sind. Das kann bedeuten, daß ein Spielfilm, der für den Hamburger Versuch digitalisiert worden ist, für die Ausstrahlung in Stuttgart komplett neu formatiert werden muß. Weil zudem die Finanzierung der bis zu 100 Millionen Mark teuren Projekte nirgendwo geklärt ist, mußte zum Beispiel der ehrgeizige Stuttgarter Großversuch ordentlich eingedampft und zeitlich verschoben werden.

Was aber die Interaktiv-Pioniere zwischen Hamburg und Stuttgart tatsächlich auf die Palme bringt, ist ihre kümmerliche Rolle in der zweigleisigen Telekom-Strategie. Der Staatsriese macht nämlich keinen Hehl daraus, daß einige der „Versuchsdienste“ bereits Anfang 1996 flächendeckend in den Kabelnetzen angeboten werden sollen. Vorreiter dieser Entwicklung ist Berlin, wo das Demonstrationsprojekt demnächst auf über 100.000 Haushalte ausgedehnt werden soll. Die zeitversetzte Ausstrahlung von Spielfilmen auf mehreren Kanälen („Near Video On Demand“), neue Abo-Sender, Teleshopping, Hörfunkprogramme und Datendienste sollen binnen Jahresfrist allen 1,1 Millionen Anschlüssen des Berliner Kabelnetzes zur Verfügung stehen. „Wofür braucht man dann noch Pilotprojekte?“ schimpfen die Experten. Zurecht.

Stellt sich natürlich die Anschlußfrage: Wofür braucht man übermorgen überhaupt noch Institutionen wie Fernsehsender, wenn demnächst jeder Heim-PC ab Werk mit fernsehtauglichem MPEG-2-Chip verkauft wird? Erst kürzlich strahlte der WDR Sondersendungen von der Fachmesse CeBit über den Computerverbund „Internet“ aus. Am 3. Juni steht die „Net“-Weltpremiere eines Spielfilms an. Die angekündigte Independent-Komödie „Party Girl“ stimmt auf das Zeitalter ein, in dem jeder ambitionierte Hobby- Filmer seine Werke weltweit anbieten kann – ohne TV-Lizenzauflagen, Werberichtlinien oder Jugendschutzgesetze. Denn ausufernde Computernetze wie das „Internet“ sind leicht zu erreichen, aber nur schwer zu kontrollieren. MPEG-2 macht's möglich. Michael Stadik