Staatsabstinenzler im Rotstiftrausch

Gebraucht wird er immer öfter – doch die US-Republikaner lieben ihn immer weniger: den Zentralstaat  ■ Von Andrea Böhm

Wieder einmal „Land unter“ im Mittleren Westen. Hausdächer schwimmen auf dem Mississippi und dem Missouri, Schlauchboote tuckern an Straßenschildern vorbei, Dörfer sind zu Inseln geschrumpft. Streng genommen ist der Regen schuld. Aber sich über Regen zu ärgern ist für Leute, denen gerade der ganze Hausrat und die Ernte weggeschwommen sind, weniger erleichternd, als sich über die US-amerikanische Bundesregierung aufzuregen. Die Bundesingenieure hätten die Dämme ja ein wenig höher bauen können. Und vielleicht können die Bundesmeteorologen mal erklären, warum jetzt schon wieder alles unter Wasser steht, wo sie doch die Überschwemmung vor zwei Jahren zur „Jahrhundertflut“ erklärt hatten. Typisch für den Staat: Nicht einmal das Wetter kann er vorhersagen.

Der so Gescholtene wird weiter Tief- und Hochausläufer erkunden, die Dämme wieder aufbauen – dieses Mal vielleicht noch ein bißchen höher – und all jenen finanzielle Kompensation anbieten, die auf höher gelegenes Land umziehen wollen. Bundesbeamte der „Federal Emergency Management Agency“ (FEMA), der „Small Business Administration“ (SBA) und anderer Behörden werden in die Flutgebiete kommen, den Schaden bemessen, Überbrückungsgelder und Kredite ausgeben. Genau so haben sie Obdachlosen nach den Erdbeben in Los Angeles geholfen oder Ladenbesitzern nach dem Bombenanschlag in Oklahoma City. Natürlich viel zu langsam und bürokratisch. Aber immerhin: Sie sind da.

Katastrophen in den USA – vom Erdbeben in Los Angeles über „Hurricane Andrew“ in Florida bis zum Bombenanschlag in Oklahoma City – sind Kollektiverlebnisse, in denen Amerikaner über sich hinaus- und zusammenwachsen. Katastrophen – ob von der Natur oder von Menschen, durch Regen oder Bomben ausgelöst – gehören nach Ende des Kalten Krieges auch zu den wenigen Ereignissen, in denen die Existenzberechtigung der Bundesregierung und -verwaltung ebenso einleuchtend wie akzeptabel ist.

Folglich haben die Republikaner einen ungünstigen Zeitpunkt für die Präsentation ihrer Haushaltsentwürfe erwischt. Ihr fiskalischer Kreuzzug gegen den Bundesstaat kollidiert in den Fernsehnachrichten mit den Fluten des Mississippi und Missouri – und dem immer noch präsenten Bild der Bombenruine in Oklahoma City. Daß die Überreste dieses Bundesverwaltungsgebäudes just an dem Dienstag abgerissen wurden, als der Senat über das republikanische Kahlschlagprogramm gegen die Bundesverwaltung abstimmen wollte, kam den Politikern eher ungelegen. Vielleicht zog sich die Abstimmung deshalb bis in die Morgenstunden hin.

Haushaltsentwürfe bieten selten Stoff für Dramen – es sei denn, man möchte wie die Republikaner im US-Kongreß in den nächsten sieben Jahren über eine Billion Dollar einsparen, um den Haushalt auszugleichen. Genauer gesagt: Ab dem Jahr 2002 soll der (Bundes-)Staat keine Schulden mehr machen. Über die Hälfte der Einsparungen soll bei den Krankenversicherungsprogrammen „Medicare“ (für Senioren) und „Medicaid“ (für Arme) sowie weiteren Sozialprogrammen erfolgen. Insgesamt 284 Bundesprogramme sollen gestrichen und mehrere Behörden geschlossen werden. Die Republikaner im Senat möchten das Handelsministerium abschaffen; ihre Parteifreunde im Repräsentantenhaus wollen dazu noch die Ministerien für Erziehung und Energie eliminieren.

Den Republikanern, die im November 1994 eine neue, radikale Generation von „Anti-government“-Abgeordneten ins Repräsentantenhaus schickten, muß man durchaus zugute halten, daß sie einige fiskalische Tabuthemen angerührt haben – zum Beispiel die absehbare Kostenexplosion der staatlichen Krankenversicherung für Senioren und für Arme. Doch dies ist nur eine Facette eines viel größeren Problems: Es gibt keine umfassende Krankenversicherung in den USA. Eine entsprechende Reform durch die Clinton-Administration haben eben die Republikaner im letzten Jahr verhindert.

Der Kahlschlag im Sozialbereich ist nicht nur konservatives „business as usual“. Es geht der Parteirechten um Newt Gingrich um die Abschaffung des Sozialstaates. Was immer seit der New- Deal-Ära von Präsident Franklin D. Roosevelt in den 30er Jahren als Zuständigkeit des Bundes im Gesetz verankert und in der Verwaltung institutionalisiert worden ist – von der Katastrophenhilfe über Anti-Diskriminierungsmaßnahmen bis zum Verbraucher- und Umweltschutz –, soll zurückgeschraubt, ganz gestrichen oder in den Kompetenzbereich der Einzelstaaten verlagert werden.

Nun gilt es zu betonen, daß die Sieben-Jahres-Pläne der Republikaner keineswegs für bare Münze zu nehmen sind. Es handelt sich um Eckdaten, die in den Ausschüssen mit konkreten Zahlen gefüllt werden müssen. Hier werden in den nächsten Monaten in mühsamster Feilscherei die unzähligen einzelnen Etatposten festgelegt. Und da, so schrieb spöttisch die Washington Post, „werden Kürzungspläne so vergänglich wie ein Waffenstillstand der Serben“. Je näher man dem Baum rückt, der gefällt werden soll, desto größer das Geschrei derer, die darauf sitzen. Eine innerrepublikanische Schlammschlacht prophezeien die Kommentatoren für die nächsten Wochen und Monate.

Ob bis 2002 ein ausgeglichener Haushalt erreicht werden kann, ist also mehr als fraglich. Doch die Prämisse als solche, wonach die USA nur mit einem ausgeglichenen Haushalt ökonomisch funktionstüchtig bleiben, ist in der politischen Debatte derzeit unangreifbar. Die Demokraten wagen da keinen Widerspruch. Präsident Clinton kündigte gar letzte Woche zur Überraschung seiner Berater an, selbst einen Plan für einen ausgeglichenen Haushalt zu präsentieren. Die Republikaner schwelgen unterdessen in rosigen Zukunftsprognosen über einen Staat, der schwarze Zahlen schreibt, und in Erinnerungen an die finanzielle Solidität der Eltern und Großeltern, die angeblich nie mehr ausgegeben als eingenommen hätten – eine seltsame Nostalgie in einem Land, in dem man ohne Kreditkarte kein vollwertiger Mensch ist. Daß es just die Republikaner unter Führung der Präsidenten Reagan und Bush waren, die das Staatsdefizit in den 80er Jahren in astronomische Höhen trieben, verschweigen sie heute tunlichst.

Nur wenige stellen die Prämisse des ausgeglichenen Haushalts in Frage. Zu diesen Ausnahmen zählt das links-liberale „Economic Policy Institute“ (EPI), das von US- Arbeitsminister Robert Reich mitgegründet wurde. „Es ist zweifellos dringend notwendig, daß die Schulden- und Zinsbelastungen stabilisiert werden“, argumentiert EPI-Politikberater Todd Schafer. Aber nichts führe daran vorbei, daß ein Staat weiterhin zuweilen Kredite aufnehmen müsse. Schafer zieht die optimistischen Zahlenspiele der Republikaner in Zweifel, die entgegen allen Erfahrungen voraussetzen, daß es in den nächsten sieben Jahren zu keiner Rezession kommen wird. Ebenso nehmen die Konservativen an, daß das „Federal Reserve Board“, die US-Zentralbank, die Verheißung eines ausgeglichenen Haushalts durch eine Zinssenkung quittieren wird, was das Wirtschaftswachstum ankurbeln und die Zinszahlungen des Bundes für seine Schulden bis zum Jahr 2002 um 98 Milliarden Dollar verringern werde: Wunschdenken, sagt Schafer.

Am Ende dürften es allerdings nicht die Meinungen von Ökonomen sein, von denen sich die selbsternannten Kreuzzügler gegen Staat und Defizit ins Wanken bringen lassen. In ihrem Rotstift- Rausch bringen die Republikaner viele Interessengruppen gegen sich auf – zum Beispiel die bislang auch unter Konservativen als unantastbar geltende „National Science Foundation“ und die Nasa. Den Mitarbeitern der Raumfahrtbehörde dürfte besonders sauer aufgestoßen sein, daß republikanische Abgeordnete ihre Haushaltspläne als ein mit der Mondlandung von 1968 vergleichbares historisches Ereignis feiern – und das „Space Shuttle“-Projekt der Nasa um ein Drittel zusammenstreichen wollen.

Bill Clinton hofft nun darauf, daß die Republikaner in dem Gegenwind umfallen, den sie durch ihre Kahlschlagpläne selbst verursachen. Dieses Kalkül mag aufgehen. Doch es täuscht nicht darüber hinweg, daß die USA derzeit an einem Scheideweg stehen. Erkennt man weiterhin die Autorität des Bundesstaates an, oder liegen politische und ökonomische Kompetenzen in erster Linie in der Hand der fünfzig Einzelstaaten?

Einen schweren Rückschlag mußte die Clinton-Administration – und damit der Bund – vor wenigen Wochen einstecken, als der Oberste Gerichtshof in „US vs Lopez“ entschied, daß ein landesweites Verbot, in unmittelbarer Nähe von Schulen Schußwaffen zu tragen, die Kompetenzen des Bundes überschreite. Und erst letzte Woche löste das höchste Gericht der USA beinahe ein politisches Erdbeben aus: Vier der neun Richter befanden, daß es den Einzelstaaten zustehe, die Amtszeiten ihrer Kongreßabgeordneten in Washington eigenmächtig zu begrenzen. Um den nationalen Charakter des Wahlprozesses zu gewährleisten, hielten die fünf anderen Richter entgegen, könne die Frage der Begrenzung von Amtszeiten nur auf Bundesebene – sprich: durch eine Verfassungsänderung – entschieden werden. Nur eine Stimme habe gefehlt, schrieb die New York Times, um die führende Rolle des Bundes abzulösen und „die Einzelstaaten wieder zu den authentischen Trägern des demokratischen Systems zu machen“.