"Berlin ist das europäische N.Y."

■ Zur Avantgarde gezählt zu werden, hält sie für ein Stigma, und ihre Gospels handeln nicht vom Himmel, sondern von jetzt. Ein Gespräch mit Amina Claudine Myers, die heute in der Passionskirche auftritt

Die Pianistin, Organistin und Sängerin Amina Claudine Myers wuchs in Arkansas und Texas auf, leitete dort Kirchenchöre und sang in lokalen Clubs. Als Musiklehrerin siedelte sie nach Chicago über und kam dort in Kontakt mit der afroamerikanischen Jazz-Avantgarde AACM (Association for the Advancement of Creative Musicians) und deren Great-Black-Music- Konzept, einem originärem Mix aus afrikanischen Rhythmen, Blues, Gospel, Soul und freiem Jazz. Heute lebt Myers in New York. Ihre jüngste CD erschien in der women-in-(e)motion-Reihe des Bremer Labels „Tradition&Moderne“ (T&M 102). Mit Lester Bowie wird sie im Juli beim Den Haager North Sea Jazz Festival auftreten, heute stellt sie ihr Soloprogramm in der Passionskirche vor.

taz: Die Avantgarde ist in die Jahre gekommen. Was verbindet Sie heute noch damit?

Amina Claudine Myers: Bei Avantgarde denkt man doch eher an Leute, die ihr Klavier aus dem Fenster schmeißen oder mit einem Koffer auf die Bühne kommen, den fallen lassen und später erklären, daß sie Musik gemacht hätten. Ich fühle mich stigmatisiert, wenn man mich dieser Avantgarde zurechnet. Und wer erst mal stigmatisiert ist, bekommt kaum noch einen Job. Ich spiele nur die Musik, die ich erfahren habe, in der ich mich auskenne.

Sie sind mit Gospelmusik aufgewachsen und singen und komponieren auch heute noch eigene Gospelsongs ...

Es geht dabei eigentlich weniger um die Lyrics, sondern um die emotionale Tiefe, die die Musik erreicht. Mein Song „Down On Me“ handelt von Erfahrungen, die jeder kennt. Wenn man die ganze Welt gegen sich vereint wähnt, überall nur kalte Wände spürt und sehr depressiv wird. Ebenso „Ain't Nobody Ever Gonna Hear?“, ein Song, der von der Müdigkeit handelt, von der Schwäche des einzelnen angesichts der Ungerechtigkeit in der Welt. In „Call Him“ geht es darum, daß man sich nicht zum Maß und Richter der Menschen und Dinge macht. Um den Glauben an eine höhere Macht oder Kraft, die dir die Energie zum Leben gibt – „You Don't Need A Telephone, Just Call Him“. Schwarze reden häufig von „Jesus“ und „Lord“, aber ich glaube, daß man diese Termini individuell auf alles beziehen kann, was einem spirituell Kraft gibt. Manchmal fühlte ich mich so, als wäre ich ganz allein auf dieser Welt.

Aber auch die Gospelmusik hat sich verändert. Songs, die heute komponiert werden, sprechen vom Himmel auf Erden – now! Sie projizieren nicht mehr ein besseres Leben irgendwann im Himmel. Sondern daß man für das eigene Glück verantwortlich ist. Daß es Hoffnung gibt in diesem Leben.

Wie haben Sie Chicago erlebt?

Wer einmal auf dem Land gelebt hat, vergißt das nie. Als ich Jazz Messenger war, sagte Art Blakey mir, daß Berlin das europäische New York und Frankfurt das europäische Chicago sei. Ich ging also zunächst nach Chicago, um Musik zu unterrichten. Ich war stolz auf mein Lehrerdiplom und ansonsten noch ziemlich naiv. Ich hatte gar nicht vor, als professionelle Musikerin selbst auf der Bühne zu stehen. Eigentlich hatte ich den Eindruck, daß für die Spiele, für die man mich vorsah, gar keine Bühne nötig sei. Die wären mehr unterhalb der Bühne gespielt worden. Aber zu der Zeit waren die AACM-Mitglieder sehr aktiv. Sie respektierten mich und zeigten mir eine ganz neue Welt. Sie ermutigten mich, zu komponieren und auch zu schreiben. Die AACM war eine sehr kreative Community.

Auf New York muß man vorbereitet sein ...

Heute bin ich eine richtige Stadtfrau, aber als ich 1967 zum ersten Mal New York besuchte, war ich doch sehr erschrocken. Vor allem von der Lower East Side, der Armut dort und den Leuten, die an den Ecken in kleinen Gruppen rumlungerten. Für New York braucht man gewisse Ressourcen, das Wissen, wie man sein Geld zusammenbringt und sehr große Disziplin, nicht von der Energie dieser Stadt erdrückt zu werden. Alkohol und Drogen können dich überall erwischen, aber in New York ist das tödlich. Auf all das muß man vorbereitet sein, psychisch und physisch. Als ich 1976 nach New York zog, hatte ich keine Angst. Ich machte Dinge, die ich heute nicht mehr tun würde: Ich fuhr nachts allein U-Bahn, schlenderte durch die Straßen, schaute mir die Porno-Shops an. Ich war halt sehr neugierig. Und ich fühlte mich dort frei, keiner nervte mich oder hielt mich zurück. Ich tat das, was ich wollte. Aber wie gesagt: Wenn man sein Programm nicht beisammen hat, kann man es in der Stadt nicht schaffen. Weil sich nämlich kein Arsch um dich schert. Interview: Christian Broecking

Heute, 20 Uhr, Passionskirche, Marheinekeplatz, Kreuzberg. (Um 15 Uhr im Live-Gespräch bei JazzRadio Berlin.)