Gestohlene Küsse

Die Autobiographie des Literaturnobelpreisträgers Patrick White erkundet die Risse im eigenen Spiegelbild und in der australischen Kultur  ■ Von Rolf Spinnler

Im Leben wie im Werk des 1912 geborenen Patrick White, der 1973 als bisher einziger australischer Autor den Literaturnobelpreis erhalten hat, spielt die Metropole an der Ostküste Australiens eine zentrale Rolle, „das feuchte, kochende, oberflächliche, grelle, schöne, häßliche Sydney, das sich im Laufe meines Lebens von einem sonnenerfüllten Dorf zu dem parvenühaften Zwitter von heute entwickelt hat, einer Mischung aus San Francisco und Chicago.“ Schon dieses knappe Stadtporträt aus Whites Autobiographie „Risse im Spiegel“ schlägt ein Leitmotiv an, dem das Whitesche Werk wohl insgesamt seine produktiven Energien verdankt: Zwitterhaftigkeit – soziale, kulturelle, ästhetische, sexuelle.

Der „mit dem sprichwörtlichen Silberlöffel des ererbten Wohlstands im Mund“ geborene Sohn von in Australien zu Vermögen gekommenen englischen Auswanderern „verrät“ seine Klasse und versucht nach durchlittener englischer Public School und einem Sprachstudium (Französisch und Deutsch) in Cambridge im London der dreißiger Jahre als freier Schriftsteller Fuß zu fassen – halb Bohemien, halb Bürgersohn mit schlechtem Gewissen (man kennt das von Thomas Mann). Ein Wanderer zwischen den Kulturen: Im englischen Internat wird der Junge wegen seines Akzents als colonial gehänselt, während ihn die waschechten Australier für einen arroganten englischen Snob halten.

Hinzu kommt das, was White „sexuelle Ambivalenz“ nennt: seine Homosexualität, die er als Chance begreift, „zwischen allen möglichen Lebens- und Geisteshaltungen umherzuschweifen, eine Vielzahl von Rollen in ebenso vielen widersprüchlichen Körperhüllen zu spielen.“

Und doch bleibt White das Kind einer puritanischen Zivilisation: „Noch in den schamloseren Tagen meines Erwachsenenalters zitterte und flackerte die englische Sexualität mit ihrem schlechten Gewissen wie eine Gasflamme beim Verlöschen. Die Stärke des Spiels lag in den Eröffnungen.“ Wer sich also, durch den alltäglichen Exhibitionismus unserer Massenmedien verwöhnt, auf der Suche nach entsprechenden „Stellen“ über Whites Autobiographie hermachen sollte, wird enttäuscht werden: Da herrscht ein Stil diskreter Andeutungen. Freilich: Wer wie White fast fünfzig Jahre – bis zu seinem Tod 1990 – mit demselben Mann zusammengelebt hat, bietet ohnehin wenig Stoff für reißerische Skandalgeschichten. Kennengelernt haben sich die beiden – der Schriftsteller und sein Lebensgefährte Manoly Lascaris, der Sohn einer aus Kleinasien stammenden griechischen Kaufmannsfamilie – während des Krieges Anfang der vierziger Jahre im ägyptischen Alexandria, als der eine Nachrichtenoffizier bei der Royal Air Force und der andere Dolmetscher bei der mit den Briten verbündeten griechischen Exilarmee war. Dieser Manoly hat offenbar im Leben von Patrick White eine ähnliche Rolle gespielt wie Ehefrau Katja in dem von Thomas Mann: der ruhende Gegenpol zum schwierigen Künstler. Nachdem die beiden das Kriegsende im befreiten Athen erlebt hatten, entschlossen sie sich nach einigem Zögern, sich am Stadtrand von Sydney niederzulassen. Dort, während sie – erfolgslos – ihr Glück als Farmer versuchten und White von seinen chronischen Asthmaanfällen (Prousts Krankheit!) malträtiert wurde, entstanden nach und nach die Romane, die den Schriftsteller zu einem wenn auch umstrittenen Geheimtip in der australischen Literaturszene machten.

„Der Puritaner in mir hat immer mit dem Sensualisten gerungen.“ Diese Risse im Charakter des Autors teilen sich auch dem Werk mit: in seiner Doppelnatur von satirischer Kulturkritik und mystischer Vision. Der Puritaner White wird in seinen Romanen und Theaterstücken zum Kritiker der australischen Nachkriegskultur und der beginnenden Wohlstandsgesellschaft mit ihrer „spießigen Nicht- Kultur aus Geld, Autos und Swimmingpools“, ihrer Korruption und dem Verfall moralischer Prinzipien: „Geld war jetzt alles, das Vulgäre wurde chic, die Halunken kamen ungestraft davon, vorausgesetzt, sie waren reich genug.“ Er engagiert sich schließlich auch politisch: zuerst gegen das Olympiaprojekt von 1972, dem zwei große alte Parks zum Opfer gefallen wären, dann für die Labour Party. In diesen „grünen“ Sympathien und dem nostalgischen Lob der „Tugenden der Arbeiter, wie sie mir aus meiner Kindheit in Erinnerung sind“, zeigen sich auffällige Parallelen zu Pasolinis Kritik an der „Zerstörung der Kultur durch die Konsumgesellschaft“. Wie bei dem Italiener die ländliche Idylle des heimatlichen Friaul und die archaische Vitalität des römischen Subproletariats als utopische Gegenwelten zur Plastikkultur des „Neokapitalismus“ beschworen werden, so bei White die zeitlose Monumentalität der australischen Landschaft und das Lebensschicksal von existentiellen Außenseitern gegen die eindimensionale Tristesse in den Mittelschichtsghettos von Suburbia: „Das ideale Australien, das ich mir während jedes Exils ausmale und das mich immer wieder zurückholte, war [...] stets eine Landschaft ohne Figuren.“

Der Riß, der sich durch Whites Werk zieht, trennt das Lächerliche vom Erhabenen, den Satiriker vom Visionär – oder läßt, im geglücktesten Fall, das Erhabene mitten im profanen Alltag für einen flüchtigen Augenblick aufleuchten. Joyce nannte das „Epiphanie“, Forster „eternal moment“, Benjamin „profane Erleuchtung“, Musil den „anderen Zustand“. Es ist jener Rest von Theologie, auf den große Literatur offenbar nicht verzichten kann. Diesem Stilgesetz folgt auch Whites Autobiographie. Über weite Strecken spröde und jede Selbststilisierung vermeidend, vielmehr von jener strengen protestantischen Selbstkritik geleitet, die seit Augustinus und Rousseau zum Gattungsgesetz autobiographischer „Bekenntnisse“ gehört, beschenkt sie den Leser dann doch immer wieder mit solchen Epiphanien, „schönen Stellen“ wie diesen: „Für den seltenen Blick auf das Edle, den widerwillig gegebenen Kuß ist alles, was man zuvor an Marotten, Kitsch, Entartung dessen, was man liebt, erlitten hat, plötzlich annehmbar; die eigene Leidenschaft ist gerechtfertigt.“ Oder sie versöhnt durch einen lakonischen schwarzen Humor. An den Maler Francis Bacon etwa – einen Freund im London der dreißiger Jahre – erinnert White sich so: „Bei ihm lebte ein altes Kindermädchen, das sich, wenn die beiden knapp bei Kasse waren, als Ladendiebin betätigte, und als Geliebten hatte er einen Stadtrat.“

Anders als die Klassiker der Autobiographie liefert Whites Selbstporträt kein abgerundetes Bild des eigenen Lebens und Charakters. Entstanden ist vielmehr ein Text, der locker-assoziativ Erinnerungsfragmente und Mosaiksteinchen aneinanderreiht – ein Spiegelbild mit vielen „Rissen“ und „Sprüngen“ eben. Das Buch, ergänzt durch vom Autor ausgewählte Fotos, zerfällt in drei größere Abschnitte: einen Hauptteil von knapp zweihundert Seiten, der – mit Vorgriffen und Rückblenden – einigermaßen chronologisch den Stationen des eigenen Lebens folgt; einen etwa hundert Seiten starken Rückblick auf gemeinsam mit dem Lebensgefährten unternommene Reisen kreuz und quer durch Griechenland; schließlich einige knappe „Episoden und Epitaphe“. Das Griechenlandkapitel – der schwächere Teil des Buches – scheint sich einer fast allegorischen Kompositionsidee zu verdanken: Es ist eine Art Hommage an den „Griechen“: an Manoly, den Geliebten – die ferne griechische Landschaft als Gegenpol zur vertrauten australischen. Die „Episoden und Epitaphe“ dagegen zeigen White noch einmal als Meister des knappen, satirischen Porträts – köstlich etwa sein Bericht über einen Lunch mit der Queen an Bord der „Britannia“.

Patrick White ist in Australien kein populärer Schriftsteller. Er belieferte die Mittelklasse seines Landes nicht mit dem repräsentativen „australischen Roman“, den die Kritiker erwarteten: optimistisch in die Zukunft blickend, nicht so „zerrissen“ wie das Whitesche Werk. Und nicht so pornographisch. Pornographisch – ein so diskreter Autor wie White? Offenbar gilt bei den Spätviktorianern da unten am anderen Ende der Welt noch als „Sünde“, was bei uns dekadenten Europäern kaum jemand mehr aufregen würde – wir sind da inzwischen ganz anderes gewöhnt. Anders kann man es sich nicht erklären, daß Whites Bekenntnis zu seiner Homosexualität beim australischen Publikum auf Entrüstung stieß. Wie dem auch sei – die Autobiographie des großen australischen Schriftstellers gibt dem deutschen Leser erste Gelegenheit, sich mit den Sehnsüchten und Neurosen eines fernen Kontinents bekannt zu machen. Wer mehr wissen will, der greife zu Whites Romanen.

Patrick White: „Risse im Spiegel. Ein Selbstporträt“. Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser. S. Fischer Verlag, 352 Seiten, geb., 44 Mark