Dunkle Seite des Materials

■ Punk-Fanzine, Bebop-Improvisation und Comic-Existentialismus: Raymond Pettibons Zeichnungen

Kennedy, Manson, die CIA; Züge, krachende Blitze und immer wieder Text: Der Weg, den man sich durch die Zeichnungen von Raymond Pettibon bahnen muß, ist uferlos und ohne Ende. Seine Figuren sind auf Konturen, grobe schwarze Striche und Schraffuren reduziert, der Beitext besteht zumeist aus nicht mehr als einem Ausruf, Fragment oder Gedankenblitz, der sich plötzlich mit dem Dargestellten assoziativ verbindet. Das Bild des niedergebeugten Mannes, der von zwei Beamten in Zivil abgeführt wird, kommentiert Pettibon mit „Four days in California – Coming back changed – Look. I made TV.“ Mehr braucht es nicht, um die Geschichte von John Hinkley zu erzählen, der aus Liebe zu Jodie Foster das Attentat auf Ronald Reagan verübt hat.

Obwohl seine Pointen bis auf ein Gerüst aus Redensarten reduziert sind, bleibt ihre Bedeutung seltsam diffus, selbst wenn Pettibon sie leitmotivisch als Dachzeile in die Zeichnungen einfügt. Der Text dient zwar wie beim konventionellen Comic als Parenthese, die die Bildinhalte einklammert – als Anspielung auf ein unausgesprochenes Wissen allerdings, das in den kleinsten Zusammenhängen des Alltags mitschwingt, etwas, das sich, wie Pettibon sagt, „in der Mitte des Satzes verliert, ohne zur Reife oder Erfüllung zu kommen“. Wenn über dem Porträt einer graziösen, aber verschleierten Frau der Satz: „Ich heiratete in eine Verbrecherfamilie“ steht, dann bildet Pettibon damit die Unwägbarkeit einer religionsbesessenen US-Mittelschicht ab, deren begeisterte Bibeltreue eben auch Charles Mansons Family, Koreshs Davidianer-Sekte und Fernsehprediger hervorbringen konnte. Zugleich scheint in der Darstellung jener glamourös-mondäne Chic auf, der Fotografien aus Hollywood anhaftet.

Gerade die dunkle Seite der Phänomene interessiert Pettibon als Material von Pop-Kultur, so wie bei Andy Warhol etwa Elvis, Marilyn, Unfallwracks und elektrischer Stuhl zusammengehören. Die Frage nach seiner Faszination für Gewalt beantwortet Pettibon: „Nein, Charles Manson zum Beispiel, ich war nie sein Jünger oder so etwas. Der Grund, warum er mich als Thema ansprach, war rein lyrisch oder literarisch. Er war jemand, der nicht nur die Bibel, die Offenbarung und die apokalyptischen Teile des Neuen Testaments anschaute, sondern auch das Song- Buch der Beatles, und er brachte die Erklärungen seiner Weltordnung in einem einfachen Pop- Song oder einem biblischen Vers. Für mich bedeutet das Weiße Album die Rückseite der Bibel.“

Auch wenn die meisten Motive – Vietnam, freie Liebe, Drogen-Fantasien – mit Ikonen und Begebenheiten aus den späten sechziger Jahren arbeiten, kommt der 1957 geborene Pettibon nicht von Woodstock her, sondern vom Punk. Seine ersten Comic-Serien veröffentlichte er fotokopiert als Fanzines, später gestaltete er Plattencover für Bands wie Black Flag, Henry Rollins und Sonic Youth. Pettibon sieht sich jedoch nicht als Illustrator der Musik, sondern der Literatur verbunden: Die Zeichnungen sind eine Art improvisierter Noir-Realismus, bei dem sich das Bild in der Erzählung verflüchtigt, während der Text den Stream of consciousness pointiert. Eine Retrospektive Raymond Pettibons ist derzeit in Paris zu sehen (bis 15. Juli). Die Zeichnungen auf den literataz- und Kulturseiten wurden uns freundlicherweise von der Berliner Galerie Contemporary Fine Arts zur Verfügung gestellt. Harald Fricke