Eine Frage der Ehre

■ Trotz arger Geldnot alle Übernahmeangebote abgelehnt: Ist die russische "Unabhängige Zeitung" noch zu retten?

Sine ira et studio – „Ohne Haß und Eifer“ – der Wahlspruch, mit dem die Nesawisimaja Gaseta („Unabhängige Zeitung“) Anfang 1991 ans Licht der Welt trat, stand letzte Woche noch auf der vorläufig letzten Titelseite. Im Moment ist die Leidenschaftslose nämlich pleite.

Als Chefredakteur Vitali Tretjakow mit der neuen Losung Ende 1990 antrat, wirkte sie reichlich elitär, angesichts einer Konkurrenz, die ihr Leben lang der Agitation und Propaganda gedient hatte. Ein Blatt für politische Eliten, Administratoren und Sozialforscher ist die Unabhängige im wesentlichen auch geblieben. Der erhobene Zeigefinger und die emotionale Wertung schleichen sich noch heute relativ ungeniert auf die Seiten der großen exsowjetischen Blätter ein. Die Nesawisimaja versuchte klar, Kommentar von Nachrichten zu trennen. Diese Tendenz verwirklichte sie am erfolgreichsten bei der Berichterstattung aus den GUS-Ländern. Wenn die Konflikte zwischen Georgiern und Abchasen oder zwischen Armeniern und Aserbeidschanern neu aufflammten, stellte sie immer Darstellungen beider Parteien nebeneinander. Dieser Vergleich wird uns Moskau-KorrespondentInnen nun fehlen.

Aus der Sowjetvergangenheit brachten manche andere Blätter aber auch willkommene Erbmasse mit. Die Iswestija zum Beispiel hat sich längst zur Aktiengesellschaft gemausert, verfügt aber noch heute als ehemaliges Regierungsorgan über ihre eigenes Gebäude mit Druckerei. Die Nesawisimaja mußte ihr Haus mieten. „Ich kann Ihnen auf Anhieb 20 Methoden aufzählen, mit denen man heute in unserem Staat eine unliebsame Zeitung für immer dichtmachen kann, ohne ein einziges Gesetz zu verletzen“, sagte uns Nesawisimaja-Chefredakteur Tretjakow schon vor zwei Jahren im persönlichen Gespräch: „Es genügt schon, daß fast alle nichttraditionellen Zeitungen bei den monopolisierten Druckereien hoch verschuldet sind.“ Er rief damals eine Stiftung „Freie Presse“ ins Leben, deren Vorstand auch Expräsident Michail Gorbatschow angehörte. Ihr bis heute nicht erreichtes Ziel: die Gründung einer privaten Druckerei in Moskau.

Der Rückgang der Auflage – bei der Nesawisimaja von über 100.000 Exemplaren zu Beginn auf heute 56.000 Exemplare – verlief bei anderen Zeitungen seit Anfang der 90er Jahre noch dramatischer. Die allgemeine Teuerung spielt dabei keine geringe Rolle. Während sich die Zeitungen in den freien Wettbewerb stürzten, blieben Vertrieb und Papierherstellung in den Händen von Monopolen, die die Preise in den Himmel trieben. Millionen russischer LeserInnen können ihre Lieblingszeitung nirgendwo in ihrer Umgebung kaufen. Noch immer ist Rußland daher der einzige Staat der Welt, indem 90 Prozent der Auflage jeder Zeitung per Post vertrieben werden. Der von der Post diktierte Endpreis gehorcht der Willkür, er kann unter Umständen in einem unwegsamen Dorf bei Sankt Petersburg höher sein als auf der noch unwegsameren Halbinsel Kola. Von den 107.000 Rubeln (ca. 36 Mark), die MoskauerInnen zuletzt für ein Halbjahres-Nesawisimaja-Abonnement hinzublättern hatten, entfiel gut die Hälfte auf Zustellungsgebühren. Das ist viel in einem Land, in dem eine Nesawisimaja- Redakteurin umgerechnet nur 70 Mark im Monat verdient.

Eine ganze Reihe von Finanziers haben sich als Retter für Tretjakows Blatt angeboten, aber er wies bisher alle Angebote zurück. Sein Argument: Mit solcher Hilfe wäre die Unabhängige nicht mehr sie selbst und deshalb genauso tot wie ohne sie. Manch ehemaliger Mitarbeiter wirft ihm deshalb vor, sich „zickig“ zu gebärden. Viele gute Journalisten wechselten wegen interner Reibereien von der Nesawisimaja zur neuen Tageszeitung Segodnja („Heute“).

Im letzten Jahr gingen etwa 350 Periodika in Rußland ein, aber ebenso viele wurden auch neu geboren. Tretjakows letzte Hoffnung: er will sein Blatt von einer geschlossenen in eine offene AG umwandeln. 10 Millionen Dollar müßte der Aktienverkauf schon einbringen, damit es weitergehen kann. Dafür will die Nesawisimaja dann in Zukunft auch eine „Unabhängige Nachrichtenagentur“ und eine wöchentliche Unabhängige Militärische Rundschau mitproduzieren. Eine erste Geldspritze kam von der Gorbatschow-Stiftung. Erst einmal sind jetzt die bisherigen LeserInnen gefragt, wie viele Anteile sie zu erwerben bereit sind. In seinem vorläufigen Abschiedsartikel schrieb Tretjakow über die Nesawisimaja: „Alle haben mir immer gesagt: Rußland braucht sie. Das ist schön dahergeredet. Wir wollen jetzt überprüfen, ob es auch stimmt. Wenn Rußland die Nesawisimaja wirklich braucht, dann wird sie nicht untergehen. Wenn sie untergeht, dann braucht es sie auch nicht. Ob man das gut findet, ist eine andere Frage.“ Barbara Kerneck, Moskau