■ Die Nato-Strategie in Bosnien
: Eine Entscheidung steht noch aus

Von einem „Wendepunkt“ in der Bosnien-Politik der Nato, sprach Generalsekretär Claes nach den Luftangriffen auf ein Munitionsdepot der Karadžić- Serben. Doch noch ist offen, in welche Richtung die behauptete Wende führen wird. Zumindest an der Oberfläche der Geschehnisse sieht es so aus, als habe die Nato sich verkalkuliert: Aktionismus ohne vorherige Abwägung der möglichen militärischen Reaktionen der Karadžić-Armee, der eigenen nächsten Maßnahmen sowie der Auswirkungen auf das Kräfteverhältnis zwischen Karadžić und dem Belgrader Präsidenten Milošević im Kampf um die Führung aller Serben.

Kommt es als Folge nun bald zu neuen Nato-Angriffen und einer unkontrollierten militärischen Eskalation, weil sich die UNO und die westliche Militärallianz um der eigenen „Glaubwürdigkeit“ willen die Demütigung durch die Karadžić-Serben nicht bieten lassen können? Oder folgt ein wochenlanger Stillstand im Tauziehen um die Freilassung der von den Serben gehaltenen Geiseln?

Denkbar ist auch ein drittes Szenario. Es gibt in den letzten drei Wochen eine Reihe von Indizien dafür, daß die jüngste Entwicklung auf dem bosnischen Kriegsschauplatz zumindest von den beiden wichtigsten Blauhelm-Entsenderstaaten Frankreich und Großbritannien ganz bewußt herbeigeführt wurde: um den teilweisen oder gar völligen Abzug der Unprofor-Soldaten durchzusetzen und um zugleich die USA stärker in den Konflikt hineinzuziehen. Zur Sicherung des Abzugs will die Nato bis zu 50.000 Soldaten einsetzen, die Hälfte davon US-Amerikaner. Doch auch dieses Szenario birgt die Gefahr erheblicher Eskalation. Befinden sich die Nato-Truppen erst einmal in Bosnien, gäbe es zahlreiche Möglichkeiten, sie in ihrem eigentlichen Einsatzzweck zu behindern und in die Kämpfe zwischen den bosnischen Konfliktparteien zu verwickeln.

Auf eine solche Entwicklung, ebenso wie auf weitere Luftangriffe der Nato könnte auch der russische Präsident Boris Jelzin auf Dauer nicht mit der relativen Zurückhaltung reagieren, die er in seinen Reaktionen auf die Angriffe der letzten beiden Tagen demonstrierte. Ähnlich wie Milošević in Belgrad gerät auch Jelzin innenpolitisch immer stärker unter Druck. So hat denn auch die jüngste Entwicklung im nun über dreijährigen Bosnienkrieg nichts an einer Grundtatsache geändert: Eine Lösung des zugrundeliegenden Konflikts mit militärischen Mitteln ist nicht möglich, ja wahrscheinlich nicht einmal die dauerhafte Unterbindung bewaffneter Auseinandersetzungen zwischen den bosnischen Konfliktparteien. Eine Lösung und dauerhaften Frieden wird es erst geben, wenn die wichtigen Westmächte ihre nationalen Einfluß- und Machtinteressen in Südosteuropa zurückstellen und untereinander sowie zusammen mit Rußland eine gemeinsame Vorstellung von der politischen Zukunft dieser konfliktträchtigen Region entwickeln und mit politischen und wirtschaftlichen Mitteln durchsetzen. Andreas Zumach