Die letzte Fahrt nach 94 Jahren

■ Bahnsterben im Osten: Von Beeskow nach Lübben geht seit Sonntag nichts mehr

Auf Schienen (taz) – Im Bahnhof von Briescht in Brandenburg hängt kein Fahrplan aus. Dafür stehen alle Türen des kleinen Backsteingebäudes offen. Die Tapeten in der guten Stube des Bahnhofsvorstehers hängen in Fetzen von den Wänden. Diverse Fenster sind eingeschlagen. Von der Wohnungseinrichtung sind nur noch die Kachelöfen geblieben. Auf der ehemaligen Laderampe wächst Gras.

Kein Zug ist angeschlagen und doch kommt einer – der letzte, Zugnummer 4151. Die Diesellok ist mit Trauerflor behängt. Ganz vorne hat jemand mit Kreide gemalt: „Letzter Zug auf der Nebenbahn Beeskow–Luckau“. Ein einsamer Personenwagen wird durch die Märkische Heide und den Spreewald geschoben, die erste Klasse ist nicht mehr im Angebot. 114 Schienenkilometer verschwinden heute aus der Palette der Deutschen Bahn AG. Nur auf zwei kleinen Stichstrecken wird der Verkehr bis auf weiteres noch aufrechterhalten.

Wenn eine Nebenbahn eingestellt wird, erinnern sich die Anwohner, daß es sie noch gibt. Gemeinhin saßen in diesem Zug neben der Schaffnerin üblicherweise zwei bis sechs Personen – heute sind es mindestens vierzig, die in dem rumpelnden grünen Reichsbahnwaggon schwitzen. Die Lokomotive pfeift vor jedem Bahnübergang. In den wenigen Dörfern an der Strecke winken die Leute. Manche machen auch noch ein Foto vom Ereignis letzter Zug. In Wittmannsdorf, auf der Mitte der Strecke, hat man das Bahnhofsschild mit Girlanden geschmückt, dazu prangt die Aufschrift „Das Aus nach 94 Jahren. Auf Wiedersehen“. Der Aufsichtsbeamte hält zur Abfahrt des Zuges vorschriftsmäßig zum letzten Mal die grüne Kelle hoch.

In den vergangenen dreißig Jahren sind in der alten Bundesrepublik wegen mangelnder Rentabilität Tausende Kilometer Eisenbahn eingestellt worden. Ganze Regionen sind so zum Eisenbahn- Niemandsland geworden. Jetzt ist der Osten dran. Von Velgast nach Tribsees in Mecklenburg – „Reiseverkehr eingestellt“ meldet das seit gestern gültige Kursbuch 95/96. Straburg bis Prenzlau, Angermünde–Bad Freienwalde, Grevesmühlen–Klütz, Dähre–Diesdorf – „Reiseverkehr eingestellt“. Für die Strecke von Beeskow über Lübben und Luckau nach Falkenberg hat man selbst diesen Hinweis vergessen. Die Bahnlinie verschwand spurlos aus dem Angebot.

Daß sich der Betrieb wirtschaftlich nicht mehr rentiert hat, ist nicht nur angesichts mangelnder Fahrgäste augenfällig. Sechs Züge verkehrten am Tag von Beeskow bis nach Lübben, mit je einem Lokführer und Schaffner. Dazu braucht die Bahn Aufsichtsbeamte, die Schranken kurbeln und Kellen schwenken, Gleise, die unterhalten, Lokomotiven, die repariert werden müssen, altersschwache Brücken, die zusammenzubrechen drohen: Wozu der ganze Aufwand?

Dazu kamen geradezu abenteuerliche Fahrtzeiten. Über die Spreebrücke bei dem kleinen Dorf Briescht darf der Zug nur noch mit zehn Stundenkilometern rollen. Andernorts peitscht der Wind neugierig aus dem Fenster lehnenden Fahrgästen gnadenlos in die Augen: Da rattert die Lokomotive mit sagenhaften 30 oder gar 50 Stundenkilometern über die Schienenstöße. Dank diverser Zwischenaufenthalte ergibt das eine Fahrtzeit von einer Stunde, 20 Minuten für die 40 Kilometer von Beeskow bis Lübben – Schnitt glatte 30 Stundenkilometer.

Die Einstellung von Nebenbahnen folgt also wirtschaftlichen Zwängen und insbesondere fehlender Nachfrage – im Osten ist es nicht anders als im Westen. Ein paar Fragen bleiben allerdings: Würde jemand einen Fernseher kaufen, dessen Technik dem Stand der frühen fünfziger Jahre entspricht? Wie viele Fahrgäste hätte eine U-Bahn, die in jeder Richtung täglich nur dreimal verkehrt? Hat es schon mal eine Bundesautobahn gegeben, die so lange nicht repariert worden ist, bis auf ihr nur noch eine Geschwindigkeit von 30 Stundenkilometern erlaubt war? Und würde dann jemand diese Schnellstraße benutzen?

Von Beeskow nach Lübben gibt es eine schöne gerade Hauptstraße mit glatter neuer Teerdecke, frischen Randstreifen und einer Geschwindigkeitsbegrenzung von 80 bis 100 Kilometern pro Stunde. Eine Eisenbahn gibt es hier seit vorgestern nicht mehr. Klaus Hillenbrand