Nach dem Verfolger Ausschau halten

Das Rätsel der multiplen Persönlichkeit: Cindy Sherman in den Hamburger Deichtorhallen  ■ Von Katharina Rutschky

Cindy Sherman gehört zu den Künstlern – das ist kein Urteil, sondern eine Beschreibung –, die beim Betrachter spontanes Verständnis, ja, enthusiastische Zustimmung auslösen. Wer hat als Kind nie so getan, als ob er oder besonders sie erwachsen wäre, schon Braut oder Bräutigam, Vater, Mutter, Dame? Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht und meine Wahrnehmung auch gegenwärtiger Kinderspiele zutreffend ist, liegen Als-ob- Inszenierungen möglicher Erwachsenheit immer in der Hand weiblicher Regisseure, die sich und andere mit alten Kleidern, Hüten, Lippenstift und altklugen Reden in etwas projizieren, das sie vielleicht einmal sein werden.

Während Buben in ihren Rollenspielen einen Hang zum Größenwahn verraten, scheint der Fall bei Mädchen, die, wie Sherman, Mitte des 20. Jahrhunderts geboren sind, noch ganz anders zu liegen. Ihre Projektionen sind konventioneller, auch vernünftiger und realistischer. Daß dieser Schein ebenso trägt wie trügt und die von chamäleonhafter Anverwandlung und Fügsamkeit bewegten Oberflächen von Energien bestimmt werden, die alles andere als konventionell, vielmehr in höchstem Maße unzivilisiert sind, beschäftigt Sherman von den ersten „Film Stills“ bis zu den letzten orangeroten Collagen aus Augen, Mündern und Innereien. Ob diese Radikalisierung eine ist oder bloß in die Sackgasse führt, wo die Horrorfilme mit ihren banalen Materialschlachten schon lange festsitzen, kann man heute wohl noch nicht absehen. Fade und anmutungslos finde ich auch, trotz ihrer Kraßheit, die Arrangements aus zerlegten Menschenpuppen, Latexmasken und (buchstäblich) Genitalapparaten, in denen Sherman selbst auch nicht mehr vorkommt. Da reißt der Faden, den ihre Mimikry sonst für uns spinnt.

Geschlechter, Gesäße und Gesichter

Man vergleiche im Katalog, dessen Bildteil die Künstlerin in der Abfolge und mit wechselnden Formaten gestaltet hat, die Nummern 87 und 88 aus den Jahren 1985 respektive 1992. Das ältere zeigt Sherman als nackte Frau, die bäuchlings, mit leichter Drehung von Oberkörper und Kopf nach links, auf einem Waldboden liegt. Der angehobene Hintern ist mit einer kruden Gesäßattrappe bedeckt, deren Falte auffällig rot gefärbt ist. Das Rot korrespondiert mit dem des Gesichts, in dem, bedingt durch die perspektivische Verkürzung, der stützende linke Arm zu enden scheint.

Zu Füßen ringelt sich eine Schlange; über Taille, Rücken und Hals, auch die untere Gesichtshälfte wuchert eine dicke, glänzend grüne Pflanze. Wären Doppeldeutigkeit und Ambivalenz steigerungsfähig, verdiente dieses Szenario einen Extrapreis. Wie ist die Lage der Frau zu verstehen, muß sich der Betrachter fragen. Sind es eigene oder fremde Wünsche, die sie verfolgt oder von denen sie verfolgt wird? Ist sie erwartungsvoll oder auf der Flucht gestürzt und dabei, sich zu verwandeln wie Daphne, die den Nachstellungen Apollos entgeht, indem sie sich in einen Lorbeerbaum verwandelt?

Die Gesäßattrappe könnte ein Schutzschild sein, ein Täuschungsmanöver, aber ebenso eine Einladung zu etwas, über das die Scham zu sprechen nicht erlaubt. Andererseits wissen wir, genau besehen, nicht einmal, ob wir es bei der Person nicht überhaupt mit einem Mann zu tun haben. Wirklich weiblich ist bloß die blonde Perücke, von der wir voreilig auf den Rest geschlossen haben.

Das genaue Hinsehen führt bei Sherman, dieser visuellen Scheherazade (Danto), nämlich nicht zur Klarheit über irgend etwas, sondern nur immer weiter hinein in jene tagträumerischen Zustände, in denen vage Wünsche und ebenso vage Ängste frei flottieren und sich keineswegs widersprechen. Mag jeder die Probe aufs Exempel machen: Der Einstieg klappt nur, wenn wir einen Akteur sehen, sei es als Fragment oder so klein wie die Frau auf einem der Kotzbilder, die sich in der Sonnenbrille spiegelt, immer noch würgend, obwohl schon das Innerste zuoberst gekehrt ist.

Fehlt der Akteur wie in Nummer 88, wo auf faltig verworfenem roten Satin prothesenhafte Puppenteile zu einer weiblichen Figur zusammengelegt sind, wie vorläufig und provisorisch (der Busen kann abgenommen, die Vagina durch den männlichen Apparat ersetzt werden), dann fehlt der Szene jene Spur Leben, die sie erst unheimlich und damit auf Shermansche Art für den Betrachter verführerisch machen würde.

Seit dem frühen Erfolg ihrer kleinformatigen, schwarzweißen „Film Stills“ hängt der Künstlerin der unverdiente Ruf an, ihr Werk habe sich feministisch-politisch korrekt von der Entmystifikation der Weiblichkeit (Friedan) bis zur performativen Verflüssigung eines Subjekts ohne Körpergewicht (Butler) entwickelt. Soweit ich weiß, kann sich die Einvernahme für eine zweifellos gute Sache nicht auf Äußerungen von Sherman selbst stützen; die Bilder sprechen auch keine kritische Sprache. Schließlich betreibt Sherman in ihren Selbstinszenierungen Mimikry und betätigt sich nicht als Verfremdungskünstlerin à la Brecht.

Feministischer Brecht, spielerische Mimikry

Mimikry ist laut Duden die Schutztracht wehrloser Tiere, im verallgemeinerten Sinne dann eine Verteidigungstechnik, die durch Anpassung an die Umgebung ihr Ziel erreicht. Weit entfernt davon, Weiblichkeitsklischees zu ironisieren oder gar die Frau als männliche Fiktion zu dekonstruieren, nutzt Sherman Konventionen aller Art in diesem Sinn von Mimikry als Tarnung und Versteck. Was allerdings die Gefahr ist und was versteckt wird, bleibt ein Rätsel von extremer Suggestionskraft. Auf vielen Bildern fällt der paranoid- kontrollierende Blick auf, den Sherman als Radfahrerin, Party- Girl, Hausfrau oder nächtliche Blondine nach rechts oder links aus dem Bild heraus wirft. Selten kommt es zum direkten Blickkontakt mit dem Betrachter, und falls doch einmal, dann ist der ausgesandte Blick nicht mehr paranoid, sondern aggressiv, insbesondere wenn er in Kombination mit dem seltenen Lächeln auftritt.

Danto hat die schlicht durchnumerierten solipsistischen Fotoperformances – alle heißen „Untitled“ – zwei werk- und biographischen Phasen zugeteilt. Die ältere kreise um das „Mädchen“ als eine Ikone der populären Kultur; die jüngere und freiere spiegele die erwachsene Frau. Das scheint mir einem Strang des Werks nicht gerecht zu werden, der mir erst heute, beim Wiedersehen mit den „Film Stills“ aus der Zeit von 1977 bis 1980 und den ersten farbigen Performances von der documenta 7, 1982, aufgefallen ist.

Neben der vagen Abwesenheit, die am Betrachter vorbei oder durch ihn hindurchgeht, dem bis zur Paranoia gesteigerten Mißtrauen, kommt unübersehbar eine dämonische Aggressivität zum Durchbruch. Dämonisch, weil sie in einem braven und biederen Kontext aufblitzt. So zeigt Nummer 54 (1983) ein Mädchen mit nackten Armen und Beinen, bekleidet mit einem losen Body, seitwärts auf einem Stuhl sitzend. Die Haare sind unter einer engen Kappe verborgen, der Kopf leicht gesenkt und am oberen Bildrand angeschnitten. So fixiert sie lächelnd den Betrachter vom Stuhl herab und doch ein wenig von unten. Könnte man Bilder beschreiben, dann müßte es dem Leser jetzt kalt den Rücken runterlaufen...

Weggetreten in der Selbsterfahrung

Auch dieses Mädchen hat Sherman allein in ihrem Atelier mit einem Spiegel, dem Papagei Frieda, ihrem immer wieder ergänzten Kostümfundus und der Kamera mit Selbstauslöser entdeckt. Wer die Hamburger Ausstellung besucht, sollte sich in diesem Zusammenhang die Zeit nehmen, das Video anzuschauen, das die BBC nicht über, sondern mit der Künstlerin gemeinsam hergestellt hat.

Sherman hat von sich verbreitet, unintellektuell zu sein, die Berge von Sherman-Analysen mit amüsiertem Befremden zu lesen und

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ansonsten in quasi-somnambulen Zuständen, befeuert von lauter Popmusik, ohne Plan zu arbeiten. Eine große Naive auf dem notorischen weiblichen Selbsterfahrungstrip also? Da ist, schon im Hinblick auf die unterschiedlichen Ergebnisse, Vorsicht geboten. Bewegt sich die Selbsterfahrung politisch zwischen den Polen: So sind wir nicht (gegen den männlichen Blick) – Das ist uns widerfahren (Opfertheorie) – Wir können das auch (Frauenpower), dann setzt Sherman trotz aller Publikumsnähe auf Esoterik. Nicht als eine Geheimlehre, sondern als eine Lehre von Geheimnissen und Unheimlichkeiten. Fest steht für mich allerdings, daß nur eine Frau den Einfall haben konnte, diese Lehre in Klausur mit sich selbst zu entwickeln. Verkleidungs- und Rollenspiele, Vervielfältigungen im dreiteiligen Spiegel von Frisierkommoden (wie sieht man von hinten aus?) sind weibliches Erbe; deshalb ist Lacans Spiegel-Ich hier gänzlich unbekannt und Surrogate (von Korsett bis Konvention) beliebt.

Sherman hat einen Ursprung ihrer Kunst in den schrillen Verkleidungen des Kindes oft eingestanden. Ein zweiter, der dazu paßt, liegt in ihrer Angstlust, der Faszination durch Horrorfilme. Wo bleibt mein Verfolger? So scheinen manche ihrer Performance- Bilder zu fragen. Die Konkretion wäre die Rettung, andererseits wäre sie desillusionierend. Man wüßte, was man zu tun hätte. Selbst da, wo Sherman sich als Tote oder Mordopfer (?) zu imaginieren scheint, entzieht sie sich mit einem Blick, der in die unbekannte Ferne schweift.

Ein Lob auf die Patientinnen

Ich mag es nicht für Zufall halten, daß sich Shermans Werke parallel zum massenhaften Vorkommen der multiplen Persönlichkeit entwickelt hat. Als sie Mitte der siebziger Jahre erste Fotos von sich schoß, entdeckten manche Psychiater Patientinnen, die Dutzende von „Alters“ beherbergten: Männer und Frauen, nette Menschen und Kriminelle zuhauf. Im Hintergrund vermutete man Mißhandlung, sexuellen Mißbrauch und sonstige Traumatisierungen, die zur Abspaltung immer neuer Persönlichkeiten geführt haben sollten. Es behaupten auch viele, zeitweise von Ufos entführt worden zu sein. Andere haben sich von der Herrschaft der Therapeuten verabschiedet und sind stolz darauf, mehr als eine Person zu sein...

In diesem Kraftfeld, das Frauen auf der Suche nach sich selbst betreten haben, operiert auch Sherman. Wenn aus Chili von carne Augen starren und Pizzabeläge zu Ihnen reden – dann melden Sie sich bitte, entweder bei mir oder der zuständigen Frauenbeauftragten. Sherman – vergleiche ihre großartigen Kotzbilder – hat das schon hinter sich.

Cindy Sherman: Photoarbeiten 1975-1995. Bis 30.7. in den Deichtorhallen Hamburg. Der Katalog zur Ausstellung kostet 38 DM.