Enttäuschte Erwartungen

Der Versicherungs-Binnenmarkt im Jahr eins / Die Deutschen bleiben bei ihren Verträgen, europäische Anbieter verkaufen kaum Policen  ■ Von Hermannus Pfeiffer

Berlin (taz) – Im vergangenen Sommer startete die deutsche Versicherungswirtschaft in den Europäischen Binnenmarkt. Begleitet wurde der Neuanfang von großen Hoffnungen und vielen Befürchtungen: „Europa kommt, und kaum einer der Versicherungsmanager hat ein Konzept“, behauptete die Finanzzeitschrift Cash. Das werde sich rächen, „denn von überall her aus Europa branden demnächst unzählige neue Angebote herein“.

Dagegen hoffte Allianz-Chef Henning Schulte-Noelle auf „zusätzliche Wachstumsimpulse und manches neue Produkt“. Eine größere Vielfalt erwartete auch die Stiftung Warentest. Obendrein werde der Wettbewerb „massiv“ verschärft: „In einem harten Wettbewerb werden die Prämien sinken.“

Was hat Europa verändert in der deutschen Sicherheitsbranche? Seit fast einem Jahr können fremdländische Versicherungen ihre Policen in Deutschland verkaufen – auch ohne eigene Niederlassung vor Ort. Zulassungsbedingungen und Kontrollen sind weitgehend verschwunden. Und das Berliner Bundesaufsichtsamt für das Versicherungswesen muß weder die Preise noch die Tarifbedingungen der hiesigen Assekuranzen absegnen: Versicherungen dürfen heute nahezu beliebig kalkulieren.

Wird die gewonnene Freiheit genutzt? Nein, sagt Andreas Gernt von der Verbraucherzentrale Niedersachsen; die Versicherungen reagieren „sehr zurückhaltend“. „Es hat sich nicht viel bewegt“, meint auch Volksfürsorge-Sprecher Wolfgang Otte.

Ein moderates Umdenken will der Deutsche Ring fördern und verstärkt Versicherungen mit Selbstbehalt unters Volk bringen: Schäden bis 500 oder 2.000 Mark trägt der Kunde selbst. Bei den Hausrat- und Haftpflichtversicherungen werde allerdings über die Ausgestaltung der Tarife „noch nachgedacht“. Auch müssen Surfbretter nicht mehr überall als zusätzlicher Hausrat extra versichert werden. Immerhin bieten einige kleinere Firmen langjährigen Nichtrauchern besondere Kaptial- Lebensversicherungen an und versprechen höhere Renditen.

Hektik erzeugte der EU-Binnenmarkt hierzulande lediglich in der Kfz-Versicherung – einer Sparte mit über 40 Milliarden Mark Beitragseinnahmen. Die Autoversicherer dürfen ihre Kundschaft in neue „Risikogruppen“ aufteilen. Billigere Tarife finden jetzt nicht nur Beamte, sondern auch Bankangestellte, Garagenbesitzer oder Wenigfahrer. Andererseits müssen Führerschein-Neulinge heute branchenweit heftig verteuerte Prämien zahlen. Diese sollen das höhere Unfallrisiko der Fahranfänger abdecken – jeder dritte Neuling wird in einen Unfall verwickelt.

Da die Kfz-Policen zum Jahresende kündbar sind, bot sich hier den Versicherungsunternehmen die beste Möglichkeit, um in fremden Revieren zu wildern. Der maßvoll profitable Autoschutz gilt in der Branche als Einstiegssparte: „Wer seine Kfz-Police bei uns hat, kauft über kurz oder lang auch eine Lebensversicherung von uns“, hofft man von der Allianz bis zur Züricher Versicherungs-AG.

Nach Meinung von Verbraucherschützer Gernt ist die weitere Entwicklung auf dem Assekuranzmarkt „noch sehr offen“. Vieles spricht allerdings für eine zukünftige Dreiklassengesellschaft: Billigpolicen (3. Klasse) für Verkäuferinnen und Hilfsarbeiter werden ebenso entwickelt wie teure Service-Versicherungen für Manager und Zahnärzte (1. Klasse).

Der gestohlene Mercedes 500 SL wird dann nicht durch einen profanen DM-Betrag auf dem Girokonto ersetzt, sondern durch eine nagelneue baugleiche Luxuskarosse: Anruf genügt! Entsprechend plant die Gothaer Versicherung einen „Home-Service“, der dem Kunden während des Urlaubs die Sorge um die Absicherung seines Hauses gegen einen Einbruch abnimmt.

Neben der bereitwilligen Aufnahme von derartigen Spezialitäten wird sich der deutsche Markt aber auch zukünftig durch sein Beharrungsvermögen auszeichnen. Viele juristische Hürden sind zwar dank des gemeinsamen westeuropäischen Marktes verschwunden, aber nicht diejenigen aus Tradition und Gewohnheit. Die klassische Police „Made in Germany“ (2. Klasse) wird den hiesigen Marktplatz auch zukünftig zum Großteil füllen, allerdings bestenfalls zu den alten Preisen.

Niedrigere Versicherungsbeiträge sind auch für Verbraucherberater Gernt lediglich ein „Wunschgedanke“. Statt dessen führen unscheinbare Änderungen in den neuen Verträgen zu individuellen Produkten, aber auch zu einer neuen Unübersichtlichkeit. „Tarifvergleiche sind nur noch mit zehn oder fünfzehn Fußnoten möglich“, sagt Pressechef Otte.

Für die weitgehende Kontinuität in der Assekuranz gibt es einen weiteren Grund: Die Ausländer blieben aus! Um auf dem deutschen Markt anzukommen, müssen sie wie zur Vor-Binnenmarkt- Zeit etablierte Unternehmen und deren Absatzorganisationen aufkaufen. Die hochkonzentrierte deutsche Versicherungsbranche bietet dafür aber kaum Ansatzpunkte.