Systematische Folter in Tschetschenien

■ Menschenrechtsorganisation Memorial legt Bericht über Gefangenenlager in Grosny vor

Moskau (taz) – „Zunächst brachte man mich auf einen Militärstützpunkt. Dort wurde ich in einen Lastwagen eingesperrt. Ich war allein. Aber ich konnte hören, daß in dem Lastwagen nebenan ebenfalls Menschen festgehalten wurden. Meine Hände hatten sie gefesselt, die Augen verbunden. Ich bekam nichts zu essen. Lediglich einmal am Tag erhielt ich Wasser. Nachts führten sie mich hinaus. Schlugen mich zusammen. Auf meinem Körper drückten sie Zigaretten aus.“

So berichtet ein Bewohner des tschetschenischen Dorfes Assinowskaja über seine Festnahme durch russisches Militär. Seine Aussage ist nur ein Teil eines Berichts, den die russische Menschenrechtsorganisation Memorial über sogenannte „Filtrationspunkte“ der russischen Armee in Tschetschenien zusammenstellte und gestern in Moskau veröffentlichte.

Der Bericht, an dem sich auch der russische Menschenrechtler Sergej Kowaljow beteiligte, kommt zu dem Schluß, daß die russische Armee seit Beginn des Krieges im Dezember mehrere hundert Menschen in mindestens vier Gefangenenlagern in Grosny, im nordossetischen Mosdok sowie in den russischen Städten Pjatigorsk und Stawropol festgehalten hat. Dort seien die Tschetschenen systematisch – unter anderem auch mit Elektroschocks – gefoltert worden. Ein Zeuge berichtet: „Einmal steckte man mir ein Kabel direkt in den Mund. Einer schrie ,los!‘, und dann begannen die Stromstöße.“

In den Lagern halten die Russen vorrangig tschetschenische Zivilisten fest, die sie dann gegen Lösegeld freilassen. Immer wieder sterben jedoch auch Gefangene. Ein Zeuge: „Einige sind einfach willkürlich erschossen worden. Andere erstickten jedoch auch in den Lastwagen.“ Einige Gefangene hätten den Weg in die Lager zu Fuß antreten müssen. Dabei seien viele vor Erschöpfung gestorben. Über die genaue Anzahl der Toten enthält der Bericht keine Angaben. Memorial geht aber davon aus, daß auch bei den Folterungen Menschen getötet wurden.

Die Menschenrechtsorganisation fordert die staatlichen Behörden auf, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Der Staatsanwalt der Kaukasusregion habe ihr auf Anfrage jedoch mitgeteilt, daß die russischen Justizorgane zu den Lagern bisher keinen Zutritt erhalten haben. Diese würden unter der Kontrolle der Armee stehen. Da die Folterungen von maskierten Männern durchgeführt werden, die sich nur mit Decknamen anreden, sei es der Staatsanwaltschaft unmöglich, die Schuldigen zu fassen. Bernhard Clasen