Leises Sprechen

■ Die gräuliche Geschichte vom Prinzen Hamlet im Schauspielhaus Bochum - Franz-Patrick Steckels Abschied

Grau, hieß es, sei das Theater in Bochum. Seit Frank-Patrick Steckel seine Intendanz 1986 mit einer ganz in grau getönten Inszenierung von Hebbels „Nibelungen“ eröffnete, wurde diese Leitfarbe mit dem Bochumer Schauspielhaus assoziiert. Steckels Nibelungen- Grau war ein Protest gegen die heiter bunte Inszenierung von Kleists „Hermannschlacht“ seines Vorgängers Claus Peymann. So leichtsinnig und frivol dürfe man mit der deutschen Mythologie nicht umgehen, meinte Steckel und verordnete deutsches Feldgrau.

Nun, nach neun Jahren und vielen bunten Inszenierungen in Bochum greift Steckel trotzig das Farbvorurteil auf und verabschiedet sich mit einem „Hamlet“ in erlesenen Grautönen. Grau sei die Gleichgültigkeit, die Gleichförmigkeit, meint man. Steckels Grau dagegen ist wütender Protest und äußerste Differenzierung.

Wie seine Kostümbildnerin Andrea Schmidt-Futterer mit jedem Kostüm eine neue Schattierung der Einheitsfarbe zeigt, so gewinnt Steckels Schauspielerführung dem scheinbar statuarischen Arrangement Spannung und Witz ab. Der Sog der Aufmerksamkeit, der durch die Abwesenheit gröberer optischer Reize entsteht, zieht das Publikum zum Text.

Das leise Sprechen, das in Bochum unter Steckel kultiviert wurde, sichert dem Text durch die Anstrengung, die das Zuhören erfordert, mehr Verständnis als volltönende Deklamation. Minimalistisches Theater, Theater, das der Medienästhetik der Fülle eine asketische Reduktion entgegensetzt.

Der Text ist Steckels eigene Übersetzung (sofern nach 200 Jahren deutscher Übersetzertätigkeit noch jemand eine Shakespeare- Übersetzung seine eigene nennen kann). Sie ist griffig und pointiert und hält die angemessene Mitte zwischen Gegenwartsbezug und philologischer Vergangenheitstreue. Aus Hamlets misogynem Fluch „Frailty, thy name is woman“ macht Steckel allzu beflissen politisch korrekt: „Schwachheit, du trägst künftig den Namen einer Frau“.

Wenn Hamlet aber überraschend seinen Monolog mit „Dasein oder Nichtsein“ beginnt, ist diese Übersetzung durch Heideggers Begriff philosophisch wohlbegründet und zwingt zum neuen Hören der alten Phrase. Und wo man aktualisierende Willkür in Anspielungen auf den Intendantenwechsel im eigenen Haus zu hören meint („kleine Schreihälse“, die gegen das „alte Theater“ lästern), handelt es sich nur um die wortgetreu wiedergegebenen Anspielungen Shakespeares auf die Theaterfehden seiner Zeit.

Die Inszenierung ist keine Andacht, keine feierliche Nachtwache am Grabe des heiligen Textes, wie einst Klaus-Michael Grübers Inszenierung 1982 an der Berliner Schaubühne. Wie Grüber läßt Steckel den Text vollständig spielen und erreicht damit die stattliche Gesamtspielzeit von sieben Stunden.

Steckels Inszenierung ist keineswegs eine Zurücknahme des Regietheaters, nur weil er ohne Striche spielt (wie das damals auch der Inszenierung Grübers nachgesagt wurde). Steckel ist „Fundamentalist aus reiner Subjektivität“, (wie der kommende Chefdramaturg des Hauses, Carl Hegemann, ihn nennt), es ist sein Shakespeare und sein Hamlet, auf dessen Worten er besteht.

Martin Feifel spielt denn auch einen Hamlet, der aus extremer Innerlichkeit zu wildem Zynismus kommt, ein Prinz von lässiger Bitterkeit, quälenden Selbstzweifeln und trotziger Selbstbehauptung. Vorsichtiges Zögern ist ihm fremd, er ist nicht nur in Gedanken schneller als die anderen. Nichts aber ist nervender als ein Vater, der noch aus dem Grab heraus jammert und befiehlt.

Der Geist des alten Königs ist äußerlich ganz Macht und Würde in schimmernder Rüstung. Doch seine Stimme singt erst sanft im Falsett, dann krächzt sie schrill und wird zum widerlichen Fistelgeschrei. Der peinliche Effekt dieses angestrengten Gejaules zeigt die Erscheinung des Geistes als Einbruch von etwas völlig Unerwartetem und vermittelt die für Steckels Generation angemessene Ekeldistanz zur Welt der Väter.

Entsprechend widerlich ist Oliver Nägele als Claudius, dessen krimireifes Agieren als feister Bösewicht immer wieder für Heiterkeit sorgt. Am besten beherrscht Peter Roggisch die Kunst der theatralischen Minimalisierung. Sein Polonius ist würdevoll und komisch, ehrlich und durchtrieben, eine mit winzigen Mitteln genau und vielseitig gezeichnete Figur.

Nach einer Fechtszene, die durch Können und Risikobereitschaft keinen Zweifel am tödlichen Ernst der Auseinandersetzung aufkommen läßt, tritt Fortinbras die Herrschaft über die Welt als Leichenfeld an. Er und seine maschinenhaft gepanzerten Krieger stehen noch auf der Bühne, als die Leichen schon aufgestanden und in die Gasse gegangen sind.

Keine Wiederherstellung legitimer Herrschaft ist dieser Schluß, sondern die unheilbringende Etablierung der technischen Weltzivilisation.

Steckel gelingt es zum Abschied, bevor Leander Haußmanns bunte Truppe in Bochum Einzug hält, trotz radikaler Reduktion der Mittel und extremer Expansion des Textes, kurz vor dem Verschwinden des Theaters als sinnlicher Kunst, spannendes Theater zu machen. Gerhard Preußer

William Shakespeare, „Die Tragödie von Hamlet, dem Prinzen von Dänemark“. Schauspielhaus Bochum. Regie: Frank-Patrick Steckel. Weitere Vorstellungen: Teil I: 31. Mai; 21. und 29. Juni. Teil II: 1., 22. und 30. Juni; Teile I und II: 4., 18. und 24. Juni