Bosnische Verwirrungen: Die UNO verhandelt über immer neue „Optionen“. Die von Butros Butros Ghali favorisierte Lösung hätte eine Umsiedlung von bis zu 200.000 Muslimen zur Folge. Läßt sich die UNO vom Krieg überrollen? Von Andreas Zumach

Die Nervosität wächst

Selbst die Wahl des Papstes verläuft schneller und unkomplizierter, stöhnte gestern ein Journalist im New Yorker UNO-Hauptquartier. Bereits seit vier Wochen wird hier auf allen Ebenen intensiv über die Zukunft der UNO-Mission in Bosnien konsultiert und diskutiert, werden Szenarien durchgespielt und Pläne entworfen: in informellen Plenarsitzungen des Sicherheitsrates mit und ohne Generalsekretär Butros Butros Ghali; bei Sondierungen zwischen einzelnen BotschafterInnen der 15 Mitgliedsstaaten in den „grünen“, „blauen“ und „rosa“ Salons des UNO-Hochhauses; beim Lunch in einem Manhattaner Restaurant; bei Gesprächen, zu denen Butros Ghali seit Mitte April die Außenminister mehrerer Ratsmitglieder in seinem Büro im 38. Stock empfing; und schließlich in der Abteilung für Peacekeeping-Operationen.

Dennoch wird nach Einschätzung von Bonns Botschafter Detlev Graf zu Rantzau, der gestern für einen Monat den Vorsitz im Sicherheitsrat übernahm, frühestens Mitte Juni weißer Rauch über dem Hochhaus am East River aufsteigen. Denn für eine Entscheidung über die vier Optionen für die Zukunft der UNO-Mission in Bosnien, die der Generalsekretär dem Rat in der Nacht zum Donnerstag mit fünftägiger Verspätung schriftlich unterbreitete, müssen die 15 BotschafterInnen laut Rantzau noch einmal mindestens zwei Wochen untereinander und mit ihren Regierungen konsultieren. Dabei hatte Ghali dieselben vier Optionen bereits am 16. Mai mündlich vorgetragen: 1. Vollständiger Abzug der 22.400 Blauhelme. 2. Beibehaltung des Status quo, also von Zahl, Bewaffnung, Stationierungsorten und Mandat der Unprofor. 3. Ersatz der bislang mit Friedensbewahrung (Peacekeeping) beauftragten Unprofor durch eine multinationale Truppe mit dem Mandat für „peace enforcement“ (Friedensdurchsetzung) oder gar Kampfeinsätze, deren Entsendung – wie in Somalia und Haiti – vom Sicherheitsrat lediglich autorisiert wird. 4. Vorübergehende personelle Stärkung, Umgruppierung und längerfristig Reduzierung der Unprofor bei Beibehaltung des bisherigen Mandats. Die Blauhelme sollen künftig die „Sicherung humanitärer Lieferungen“, den Luftverkehr am Flughafen Sarajevo und eine Präsenz in den „UNO-Schutzzonen“ aufrechterhalten, aber „ohne Gewaltanwendung“.

Eine klare Empfehlung für eine Option vermeidet der UNO-Generalsekretär zwar, aber er macht seine persönliche Haltung durch Qualifizierungen deutlich. Die erste Option bedeute „die Aufgabe des bosnischen Volkes“ und „das Eingeständnis der Unfähigkeit der UNO, einen Krieg zu beenden“. Dieser Einschätzung des UNO- Generalsekretärs dürfte zumindest in den nächsten Wochen kein Ratsmitglied offen widersprechen. Selbst diejenigen Staaten nicht, die sich – wie Frankreich und Großbritannien – einen völligen Abzug ihrer Unprofor-Kontingente vorbehalten, wohl wissend, daß dies höchstwahrscheinlich zum Abbruch der gesamten UNO-Mission in Bosnien führen würde.

Als „unmöglich“ bezeichnet Butros Ghali die Aufrechterhaltung des Status quo (Option 2). Sie führe zu „weiteren Verlusten unter den UNO-Soldaten“. Die „Möglichkeiten der UNO, humanitäre Hilfe zu leisten und diplomatische Fortschritte zu erreichen“, würden „noch mehr untergraben“. Dies würde „die Glaubwürdigkeit der UNO weiter beschädigen“.

Mit Option 3, (multinationale Truppe), die er in seinem Bericht ohne jede eigene Wertung lediglich darstellt, ist Butros Ghali bereits auf deutlichen Widerspruch gestoßen. Angesichts der schlechten Erfahrungen insbesonders in Somalia habe diese Option „keine Chance im Sicherheitsrat“, erklärten gestern Diplomaten mehrerer wichtiger Mitgliedsstaaten.

Damit hat, wie im Grunde seit mindestens zwei Wochen absehbar, wenn überhaupt, nur Option 4 eine Chance. Bezüglich der Umgruppierung und teilweisen Reduzierung der Unprofor hat sich der Generalsekretär allerdings vor der Festlegung auf Detailvorschläge gedrückt und den Ball zurück an den Sicherheitsrat gegeben. Der Rat muß nun vor allem darüber entscheiden, ob die Blauhelme aus den drei ostbosnischen Muslim- Enklaven Srebrenica, Goražde und Zepa abgezogen werden und diese damit den serbischen Belagerern überlassen werden sollen.

Für diese Umgruppierungsvariante plädierten bislang hinter den Kulissen Rußland, Großbritannien und Frankreich. Zumindest in diesen drei Hauptstädten kann man sich auch vorstellen, daß diese Variante eine politische Lösung erleichtern könnte. Kontrollieren die Karadžić-Serben erst einmal das gesamte Ostbosnien, könnte es auch Serbiens Präsident Milošević leichter fallen, Bosnien-Herzegowina endlich anzuerkennen. Die Grenze entlang der Drina stünde dann zwar noch auf den Landkarten, hätte für die Realität aber kaum mehr Relevanz.

Über diese Umgruppierungsvariante, deren Umsetzung die Vertreibung oder Zwangsumsiedlung von bis zu 200.000 Muslimen zur Folge haben könnte, dürfte es in den nächsten Tagen noch zu Auseinandersetzungen im Sicherheitsrat kommen. Doch selbst wenn der Rat sich einigt, bedürfte es einer Zustimmung.

Möglicherweise wird das höchste UNO-Gremium aber von den Entwicklungen in Bosnien überrollt. Die Zeichen stehen auf Konfrontation, nachdem die Karadžić- Serben Bedingungen für die Freilassung ihrer Geiseln gestellt und Verhandlungen angeboten haben, die UNO laut Butros Ghalis Sonderbeauftragtem Yasuhi Akashi aber weiter auf „sofortiger und bedingungsloser Freilassung ohne Verhandlungen“ besteht. Auch die Ankündigung von Präsident Bill Clinton, möglicherweise doch US-Soldaten nicht nur zur Sicherung eines Totalabzuges der Unprofor zu entsenden, sondern auch bei einer Umgruppierung, hat die Nervosität wachsen lassen. Auch nach der Versicherung von Premier John Major, daß die zusätzlichen 6.000 britischen Soldaten dem Befehl des (britischen) Unprofor-Oberkommandierenden General Rupert Smith unterstellt werden, bleiben die Einsatzoptionen vor allem für die britische Luftlandeeinheit offen: Verstärkung der bisherigen Unprofor- Einheiten, Kommandounternehmen zur Befreiung der von den Serben festgehaltenen Blauhelme oder Sicherung eines völligen oder teilweisen Abzuges – alle Varianten sind denkbar. Dasselbe gilt für die zusätzliche schnelle Eingreiftruppe, über deren Aufstellung die Verteidigungsminister von bislang an der Unprofor beteiligtern Staaten am Samstag auf Einladung der französischen Regierung in Paris beraten wollen.