Wie Amerika erfunden wurde

■ Das New Yorker MoMA und seine Fotograf(inn)en - Genese einer nationale Kunst, die nicht nationalistisch ist

Zu den Standardüberraschungen der Amerikareisenden gehört, festzustellen, wie viele Formen des Umgangs, der Präsentation, der Wahrnehmung und der Organisation aus Amerika „kommen“. Die Feststellung erfolgt mit mehr oder weniger Widerstand. Das Amerikanische zu preisen positioniert die Sprecherin (den Sprecher) noch immer im offenen Horizont von Egalität und Festhalten am Glück; es zu verwerfen, ist ein kulturpessimistischer Standard, der seit Hamsun das europäische Eigentliche gegen das amerikanische Erfundene ausspielt.

Eine weitere Variante knüpft an einen originär amerikanischen Zweifel an und versucht sich an der Umkehrung der These. Danach gibt es nichts wirklich Amerikanisches: „Amerika hat keine Kultur.“ Was natürlich nur bedeuten kann, sie sei am falschen Ort. Zu klein und regional, um vom Europäer bemerkt zu werden, oder zu industriell und pompös, um „unserer“ verfestigten Vorstellung von Hochkultur zu entsprechen.

Drei Ausstellungen in Berlin haben die Möglichkeit geboten, die konkurrierenden Thesen zu prüfen. Vor zwei Jahren war im Martin-Gropius-Bau „Amerikanische Kunst im 20. Jahrhundert“ zu sehen, zur Zeit läuft dort eine Ausstellung, die etwas schlicht dreisprachig „Kino“ betitelt ist, in einem größeren Saal am Kulturforum ist „Amerikanische Photographie 1890–1965“ zu besichtigen.

Kunst und Film sind – was Amerikas kulturelle Stellung nach dem Zweiten Weltkrieg anbelangt – im Bezug zum europäischen Faschismus und zur Emigration gesehen worden; Fotografie nur sehr bedingt. Die amerikanische bildende Kunst ist in dem Moment „groß“, wo sie die Formsprachen der europäischen Moderne zunächst adaptiert und sich dann ihrer entledigt hat: New York School, Pop-art, Minimalismus. Der Film ist früher als die Malerei zweifelsfrei „amerikanisch“, weil er eine eigene Sicht hervorbringt, und sei es nur das Milieu von „Rick's Café Américain“. Aber der Apparat, der ihn hervorbringt, ist noch dominiert von europäischen Biographien.

Für die amerikanische Fotografie gilt das nicht. Sie findet zwischen 1925 und 1936 ihre Gestalt, zuerst durch Edward Weston in Kalifornien, dann durch Walker Evans in New York. Von 182 Fotografien, die am Kulturforum gezeigt werden, sind neun von ihm.

Die amerikanische Fotografie wird erfunden, als es Fotografen gelingt, über ihre Produkte Kontrolle zu gewinnen. Sie sind nicht mehr der Anfang einer Kette der Bildererzeugung, wie die ersten Bildjournalisten (bei deutschen Zeitschriften) oder die Fotografen von Vogue in Paris und New York. Es gibt drei Möglichkeiten, die inzwischen einigermaßen selbstverständlich erscheinen, aber es vor sechzig Jahren nicht waren: Der Fotograf verkauft seine selbstgefertigten Prints – also eine finite, unveränderbare Form seiner Fotografie – an Sammler. Der Fotograf konzipiert seinen Werkzusammenhang als Corpus, der schließlich adäquat nur im Museum gezeigt werden kann. Der Fotograf entwirft Bücher oder Kataloge, die seine Arbeit in einer selbstgewählten Form darstellen.

Die Fragen nach der Entstehung des Neuen sind die kniffligen der Kulturgeschichte. Die Etablierung von Fotografie in Künstlersprachen hat mit der Erfindung des fotografischen Verfahrens eigentlich nichts zu tun; obwohl als Revolutionierung der Darstellung beschworen, geschieht ein paar Jahrzehnte nichts von Belang. Ein neues Medium – die kinetische Skulptur, Fotografie, Video – im Kanon der bildenden Kunst zu verankern ist ein Vorgang der historischen Herleitung. Es geht um die Begründung einer Tradition.

Am Beispiel von Weston und Evans erzählt, gibt es zwei Methoden dieser Begründung: Weston war als junger Mann ein bekannter und leichtfüßiger „Piktorialist“: die düstere Schule der Fotografie, die rückwärts gewandt war in ihrer Fixierung auf „malerische“ Sujets. Als er sich entschieden der nicht manipulierten, direkten Fotografie zuwendet – ohne Rückkehr –, gleicht das einer persönlichen Sezession vom herrschenden Club.

Evans, um eine Generation jünger, kennt einen nicht unerheblichen Teil der Arbeit des Pariser Fotografen Eugène Atget, als er ernsthaft zu arbeiten beginnt. Er kennt auch Paris, den Ton der Avantgarde, aber er orientiert sich an der Ding-Bindung von Atget. Daß Atget, der ein paar Jahrzehnte lang städtische und staatliche Institutionen mit seinen Paris- Fotos beliefert hatte, nun ein „role model“ für Künstler wurde, hat mit der Fotografin Berenice Abbott zu tun, die den alten Atget kannte und einen beträchtlichen Teil seines Werks nach New York gebracht hatte.

Beide, Weston und Evans, haben Vorläufer: Weston sich selbst – als Piktorialisten –, Evans hat Atget als jemand, dessen Werk nun der Künstlerseite eindeutig zugeschlagen wird.

Die Entstehung fotografischer Autorschaft rechtzeitig begriffen zu haben ist die große institutionelle Leistung des Museum of Modern Art in New York. Im vierten Jahr nach der Gründung, 1933, zeigte es eine erste monographische Ausstellung mit Fotografien von Walker Evans, fünf Jahre später seine berühmten „American Photographs“. Erst danach, 1940, war die Gründung der fotografischen Abteilung möglich. So wie sich die feudale Malerei von ihren Auftraggebern lösen mußte, um als bürgerliche Kunst das weltliche Museum quasi zu erzwingen, mußten sich die Fotografen vom Auftrag lösen, um das Museum durch ihre Sparte zu erweitern.

Eigentlich hätte das zum modernen Programm des alten Kontinents gepaßt: der „Neue Fotograf“ als Künstler. Aber das Neue Sehen war rückgekoppelt an die Zweckbindung: Rodschenko verkaufte die Revolution, Moholy-Nagy eine Methode, und selbst Man Ray konnte zwischen einer Fotografie als Fotografie und der Werkdokuerfunden wurde einer nationalen Kunst, die nicht nationalistisch ist

Von Ulf Erdmann Ziegler

mentation nicht so recht unterscheiden. Walker Evans und Edward Weston verkauften Prints. Deshalb ist ihr Bündnis mit dem Sujet unkompromittiert, ob es die plakatierte Stadtlandschaft bei Evans ist oder der schlichte weiße Bauch von Westons Sohn Neil.

Und hier beginnt, um 1930, das Amerika, das „aus Amerika kommt“: die Ikonographierung einer eigenen Welt, aus Billboards, Autos, Dienstleistung und Entertainment. Die Fotografie war schon erwachsen, als der Jazz noch ein Kind war.

Wenn nun das Museum of Modern Art die US-Fotografie seit 1890 zeigt, ist das natürlich ein Bekenntnis zum Beginn der Moderne, wobei der Umschlag von Betulichkeit in Schlichtheit frappierend ist. Die Gründung der fotografischen Abteilung liegt auf der Hälfte der Etappe; das heißt, mindestens die ersten vierzig, wahrscheinlich fünfzig Jahre sind im nachhinein erworben.

Wenn parallel zur Entstehung des New Yorker Museums eine originär amerikanische Fotografie in Erscheinung tritt, ist das kein Zufall. Sogar die Traditionsbegründung auf der Schiene Atget – Evans vollzog das MoMA nach, als es 1968 von Berenice Abbott 5.000 Atget-Prints kauft, die trotz der schnell gewachsenen Sammlung noch ein Viertel des Bestands ausmachen. Vierzig Jahre lang hatte sie die Arbeiten in New York herumgezeigt: Wer sich Fotograf nannte, mußte es kennen.

Die Vernetzung des Museums mit den Fotografen ermutigt nicht nur diese, ihr Werk unabhängig von Verwertungszwängen zu entwerfen, sondern begründet ein Netzwerk von Quellen, das dem Museum durch bisweilen märchenhaft anmutende Fügungen wichtige Arbeiten in die Sammlung schafft. Das funktionierte vor allem unter der Ägide von John Szarkowski, Galassis Vorgänger, der von 1962 bis 1991 die Sammlung leitete. Wie alle großen Kuratoren hat er ein großes Ohr für wenige Künstler; eine der zentralen Gestalten ist Lee Friedlander. Er, selbst einer der wagemutigsten Autorenfotografen bis in die Gegenwart, entdeckte in den sechziger Jahren den Nachlaß von Ernest J. Bellocq, dessen anrührende Portraits der Huren von Storyville er von alten Negativen neu printete, ins MoMA brachte und in einem Buch publizierte. 1967 gründete er eine Ben Schultz Memorial Collection: in der Absicht, einen hellsichtigen Bildredakteur bei Time-Life posthum zu ehren, überredete er 23 Fotografen, dem Museum 57 Prints zu überlassen.

Eine Geschichte der Fotografie als die der Autoren hat es in Deutschland ansatzweise gegeben. Die Ausstellung „Film/ Foto“ (1929) wurde teilweise in Berlin gezeigt, und immerhin achtzig Arbeiten wurden vom damaligen Direktor der Kunstbibliothek, Curt Glaser, angekauft. Glaser wurde 1933 entlassen, aber offenbar war Fotografie den Nazis nicht spektakulär genug, um sie in die „entartete Kunst“ einzureihen. Das hat allerdings auch dazu geführt, daß es Versuche der Wiedergutmachung, der Reetablierung versackter Traditionen, im Ernst weder im Westen noch im Osten gegeben hat. Die Kunstbibliothek sitzt heute auf einem Konvolut von (geschätzt) 45.000 Fotografien, von denen die meisten der früheren „Vorbild-Sammlung“ des Kunstgewerbemuseums entstammen, also Detailprotokolle für die Bau-, Werk- und Webkunst der Zeit waren. Der Bestand einer künstlerischen Fotografie ist dagegen gering; vor allem ist er nur mit einem schmalen Katalog von 1971 („Künstlerische Fotografie“) systematisiert und zugänglich. Es gibt eine einzige Stelle für die ganze Sammlung, die Christine Kühn innehat – und kein Ankaufsbudget. Die letzte Ausstellung der aktiven Epoche fand 1934 statt und hieß „Menschen bei der Arbeit“.

Mit enggefaßten thematischen (New Documents, 1967) und monographischen Ausstellungen (zum Beispiel Diane Arbus, 1972) hat John Szarkowski die stilprägende Kraft seiner Autorenfotograf(inn)en hervorgekehrt. Bei Galassi sind die Energien ihrer Bildfindungen nur noch begrenzt spürbar; die Ausstellung ist durchmischt von frappierenden Beispielen früher Siedlerfotografie (eine „Dokumentation“ meist im Auftrag von Firmen), von angewandter Fotografie aus Reportage und Werbung. Der Bestand des MoMA ist stark: durch die Reinterpretation zeigen sich keine Schwächen. Eher grenzt die „Amerikanische Photographie“ Galassis an eine Sammlung eleganter Kuriosa. Seine Fotografie ist aufgeschreckt, hektisch und akzidentiell. Die Bilder vom Brand in San Francisco (1906) und von beißenden Polizeihunden in Birmingham (1963) haften besser als die besseren Fotografien.

Die implizite Leugnung einer Fotografie der Autoren ist nicht ganz zufällig. Laut Galassi haben sich die modernen Künstler wie Evans bei der „bodenständigen Fotografie“ bedient. Der Ausdruck „vernacular photography“ – irgend etwas zwischen ordinär und alltagsorientiert – mag nicht übersetzbar sein.

Aber dennoch ist die These irreführend. Fotografen wie Evans haben sich von den offiziösen Zeichen einer „Kunstproduktion“ zeitig losgesagt. Sie haben die Kultur des Populären entdeckt und reflektiert. Sie haben eine nationale Fotografie hervorgebracht, die nicht nationalistisch ist. Ihr konsequentes Festhalten an der Macht des Gegenstands gegen die Zwänge seiner Verwertung ist die einzigartige Leistung der Autoren, aber auch die Leistung des Museums, das sie „gemacht“ hat.

„Amerikanische Photographie 1890 bis 1965“, bis 11. 6. Kunstbibliothek Berlin; 3. 7. bis 1. 9. im Stedelijk Museum Amsterdam