Millionen Russen jubeln

French Open: Jewgeni Kafelnikow zieht sich selbst aus dem Tief und besiegt Andre Agassi  ■ Aus Paris Karl-Wilhelm Götte

Jewgeni Kafelnikow hatte nach einer Serie von Erstrundenflops vor den French Open in München, Hamburg und Rom bereits ernsthafte Befürchtungen um die Qualität seiner Fähigkeiten: „Ich bin kein großer Spieler, man erwartet viel zuviel von mir“, untertrieb er dann mächtig zu Beginn des Grand-Slam-Turniers von Roland Garros. Die russischen Zeitungen ließen kein gutes Haar an dem 21jährigen Blondschopf aus Sotschi am Schwarzen Meer. „Sie haben schreckliche Sachen geschrieben; mir wären die Erfolge zu Kopf gestiegen, und ich würde mich für einen Gott halten“, beklagte sich Kafelnikow, der „sein gutes Image bei Millionen Russen“ in Gefahr sah.

Der Weltranglistenneunte war phasenweise so ernüchtert, daß er daran dachte, die Sandplatzsaison zu beenden, Wimbledon auszulassen und sich in den USA auf die Hartplatzsaison und die US Open Ende August vorzubereiten. Doch sein Trainer Anatoli Lepeshin, ein kleiner runder, außerordentlich gemütlich wirkender Herr, rüstete ihn moralisch wieder auf.

Nachdem Jewgeni Kafelnikow nun im Viertelfinale den Favoriten Andre Agassi in drei Sätzen aus dem Turnier warf, wird Sowjetski Sport sicherlich wieder andere Töne anstimmen. Agassi war den Tränen nahe. Den Sieg in Paris hatte er, der hier bereits 1990 und 1991 im Finale scheiterte, fest eingeplant. Durchaus begründete Zuversicht strahlte auch sein Trainer Brad Gilbert aus, zu überlegen war Agassi in den ersten Runden in Paris; sogar der Grand Slam – der Gewinn der Turniere in Melbourne, Roland Garros, Wimbledon und Flushing Meadow binnen eines Jahres – wurde angepeilt.

Doch dann folgte der Katzenjammer. Ein stechender Schmerz in der rechten Leistengegend nach einem Ausfallschritt im ersten Satz beim Stand von 2:2 behinderte den 25jährigen US-Amerikaner nachhaltig. „Ich konnte nicht mehr rasant nach rechts zu meiner Vorhandseite sprinten und auch nicht optimal aufschlagen. Dann habe ich versucht, die Punkte früher zu machen“, erklärte Andre Agassi. Doch das ging daneben. „Bälle, die ich sonst noch bekommen hätte, habe ich verpaßt“, fügte der Weltranglistenerste hinzu, dessen Spiel wahrlich von seinen läuferischen Qualitäten lebt.

Andre Agassi gefiel sich hinterher in der exklusiven Beschäftigung mit sich selbst. Echte Gefühle der Niedergeschlagenheit wechselten mit einem Schuß Theatralik. „Es ist alles so enttäuschend, was soll ich noch sagen“, begann er die Pressekonferenz, um dann doch zwanzig Minuten seine Tristesse zu erläutern. Sein Gegner, die Würdigung der Leistung von Jewgeni Kafelnikow kam in seinen umfangreichen Kommentaren nicht vor.

Der Russe war da schon liebenswürdiger: „Gegen einen ganz gesunden Agassi hätte ich nie gewonnen“. Kafelnikow, der absolute Vielspieler der Branche (1994 stand er 177mal im Einzel und Doppel auf dem Platz), sieht sich erst am Anfang seiner Karriere und versucht, die Erwartungen zu bremsen. Doch mit seinen Erfolgen widerlegt er die Stellungnahme von vor wenigen Monaten, als er behauptete, ein Top-ten- Spieler könne er nie werden, weil er zu trainingsfaul sei. Im Halbfinale gegen den in 33 Spielen auf Sand unbesiegten Thomas Muster habe er nichts zu verlieren. „Er müßte doch jetzt mal etwas müde sein“, spekuliert Kafelnikow. Doch der mit scheinbar grenzenloser Willenskraft ausgestattete Österreicher („Zwei Tage zum Ausruhen sind genug“), der mühevoll gegen den Spanier Costa weiterkam, wird ihm gerade diesen Gefallen mit Sicherheit nicht tun.

Männer: Thomas Muster (Österreich) - Alberto Costa (Spanien) 6:2, 3:6, 6:7 (6:8), 7:5, 6:2; Jewgeni Kafelnikow (Rußland) - Andre Agassi (USA) 6:4, 6:3, 7:5; Sergi Bruguera (Spanien) - Renzo Furlan (Italien) 6:2, 7:5, 6:2

French Open, Viertelfinale, Frauen: Arantxa Sanchez-Vicario (Spanien) - Chanda Rubin (USA) 6:3, 6:1; Kimiko Date (Japan) - Iva Majoli (Kroatien) 7:5, 6:1; Conchita Martinez (Spanien) - Virginia Ruano-Pascual (Spanien) 6:0, 6:4; Steffi Graf (Brühl) - Gabriela Sabatini (Argentinien) 6:1, 6:0