Eine ruhige Republik im Kaukasus

Die Kaukasusrepublik Karatschai-Tscherkessien ist ein Kunstprodukt sowjetischer Nationalitätenpolitik. Jetzt beginnen Widersprüche zwischen den Völkern aufzubrechen. Am Samstag sind Parlamentswahlen.  ■ Aus Tebverda Ulrich Heyden

Einen bewaffneten Konflikt gibt es in Karatschai-Tscherkessien nicht. Die Auswirkungen des Tschetschenien-Krieges sind aber auch hier zu spüren. Telefongespräche von Moskau muß man seit einiger Zeit bei einer Vermittlung anmelden. Als ausländischer Journalist wird man von Polizisten häufiger nach den Dokumenten gefragt als in Moskau. An den russisch-georgischen Pässen patrouillieren Soldaten der russischen Armee auf der Suche nach Waffenschmugglern. Etwa tausend Karatschaier – so hört man von Einheimischen – sollen in Tschetschenien als Freiwillige auf der Seite Dudajews kämpfen.

Die Konflikte, die jetzt in der Republik Karatschai-Tscherkessien aufbrechen, sind jedoch anderer Art. Als das Autonome Gebiet Karatschai-Tscherkessien sich Ende 1990 in eine Republik umbenannte und sich von der nördlich gelegenen russischen Verwaltungsregion Stawropolsky trennte, versprach sich die örtliche Elite mehr wirtschaftliche Selbständigkeit. Das Gegenteil ist eingetreten. Karatschai-Tscherkessien steht heute wirtschaftlich auf einem der letzten Plätze in der Russischen Föderation. Die kleine Republik hat einige Bodenschätze, wenig Industrie vor allem aber einen großen landwirtschaftlichen Sektor. Das Budget der Republik speist sich zu 75 Prozent aus dem Moskauer Geldtopf. Daß es Karatschai-Tscherkessien heute wirtschaftlich so schlechtgeht, ist nach Meinung der tscherkessischen, russischen und abasinischen Nationalbewegungen selbst verschuldet. Die Abtrennung des ehemals autonomen Verwaltungsgebietes von Stawropolsky sei Ursache des Niedergangs, so wird argumentiert.

Auf einem gemeinsamen Kongreß im Februar dieses Jahres haben die drei nichtkaratschaiischen Nationalbewegungen die Rückkehr in die Stawropoler Verwaltungsregion beschlossen. Hauptgrund für diesen Beschluß ist die angebliche „karatschaiische Expansion“, die vom Oberhaupt der Republik dem Vorsitzenden des Ministerrates, Chubiew, massiv unterstützt werde. Konkret bedeute die „Expansion“: Karatschaier siedeln heute auf Gebieten, die nicht zu ihren traditionellen Wohnorten gehören. Über die Hälfte des staatlichen Verwaltungsapparates sei mit „chubiewhörigen“ Leuten besetzt.

Von fünf Völkern fordern drei Wiedergutmachung

In der multinationalen Republik Karatschai-Tscherkessien leben heute 430.000 Menschen. Die größte Gruppe sind Russen. Sie machen 42 Prozent der Bevölkerung aus, gefolgt von den Karatschaiern mit 31 Prozent. Die Tscherkessen stellen neun Prozent und die Abasiner sechs Prozent der Bevölkerung. Dann gibt es noch die Nogaier, die drei Prozent der Bevölkerung ausmachen, und andere kleine Nationalitäten mit zusammen fünf Prozent.

In der Sowjetzeit haben insbesondere die Karatschaier gelitten. Sie wurden 1943 wegen angeblicher Zusammenarbeit mit den deutschen Faschisten in Viehwaggons nach Mittelasien deportiert. Im Jahre 1957 – das Karatschai- Volk war rehabilitiert worden und durfte in die alten Wohngebiete zurückkehren – schuf man von Moskau aus, ohne die Völker zu fragen, das Autonome Gebiet Karatschai-Tscherkessien. Karatschaier und Tscherkessen sind zwar sunnitische Muslime, gehören aber beide unterschiedlichen Kulturen an. Die Karatschaier sind ein Turkvolk, die Tscherkessen gehören zu den Adygern. Über die traditionellen Wurzeln setzte sich Moskau hinweg. Die Karatschaier haben eigentlich gemeinsame kulturelle Wurzeln mit den benachbarten Balkaren, und die Tscherkessen sind mit den Kabardinern kulturell verwandt. Indem man Völker unterschiedlicher kultureller Herkunft in einem autonomen Gebiet zusammenfaßte, hoffte man das Gebiet besser kontrollieren zu können.

Auch Kosaken leben in Karatschai-Tscherkessien. Sie fordern ebenfalls die Wiederherstellung alter Rechte. Die Atamane träumen von „reinen“ Kosakenstädtchen, wie sie im letzten Jahrhundert bestanden, als die Kosaken die russische Südgrenze schützten. Eine dieser „reinen“ Grenzfesten war Selentschuk. „Auf dem Friedhof des Städtchens liegen meine Vorfahren begraben“, erklärt stolz der Gründer des Selentschuker Kosakenverbandes, Nikolai Ljasenko. Über die Karatschaier spricht er in unbekümmertem Chauvinismus: „Ich weiß, daß die Kultur der Russen viel höher ist als die der Karatschaier. Deshalb begegnet man den Russen nicht im Aul – dem karatschaiischen Dorf. Sie haben doch ihre Aule. Warum wollen sie in russischen Städten leben?“

Nikolai Ljasenko ist heute stellvertretender Leiter der Verwaltung von Selentschuk. Die Kosaken im Ort sind damit nicht mehr nur eine Bewegung, sondern Teil des örtlichen Machtapparates. Diese Entwicklung wird von der russischen Führung unterstützt. Den Kosaken in den Grenzregionen, vor allem im Nordkaukasus, sollen wieder Ordnungsaufgaben übertragen werden.

In den Augen der Kosaken- Atamane haben die Karatschaier sich in der Republlik zu sehr „ausgebreitet“. Sie wohnen heute, so wird ihnen von russischer und tscherkessischer Seite vorgeworfen, in Gebieten, in denen sie vor der Deportation nicht wohnten. Für die karatschaiische Nationalbewegung „Dschamagat“ (das Volk) ist das nichts weiter als nationalistische Propaganda. Dschamagat fordert die Wiederherstellung der karatschaiischen Selbstverwaltung, wie sie bis 1943 existiert hatte. Asret Ketscherukow, einer der Vorsitzenden, meint: „Als Minimum fordern wir das, was man uns im Jahre 1943 genommen hat.“

Nach der Auflösung der Sowjetunion erzielten die Karatschaier auf juristischer Ebene eine Reihe von Erfolgen. Im April 1991 verabschiedete der Oberste Sowjet Rußlands das Gesetz zur Wiederherstellung der Rechte der unterdrückten Völker. Einige Monate später, im Dezember 1991, beschloß der Sowjet des karatschai- tscherkessischen Gebietes die Wiederherstellung der Staatlichkeit des Karatschai-Volkes im Bestand der Russischen Föderation. Die Delegierten der Tscherkessen und Abasiner unterstützten diesen Beschluß. Im Februar 1992 unterzeichnete Präsident Boris Jelzin einen Gesetzentwurf „Über die Wiederherstellung der Autonomie von Karatschai im Verband der Russischen Föderation“. Diesen Gesetzentwurf hat Jelzin jedoch ein Jahr später wieder zurückgezogen. Anlaß war eine von der Führung der kleinen Republik veranstaltete Befragung der Bevölkerung, bei der sich 78 Prozent für den Erhalt der Einheit der Republik aussprachen. Für Asret Ketscherukow, einen der Vorsitzenden von Dschamagat, war die Befragung ein vom Jelzin-Berater Filatow und den Führern der kleinen Republik geschickt eingefädeltes Komplott. Die örtlichen Führer Chubiew und Saweljew seien nur an ihren Posten interessiert, Moskau habe Angst, den kleinen Völkern ihre alten Rechte zurückzugeben. Die Frage, die der Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt wurde, war ganz im sowjetischen Stil verfaßt. „Sind Sie einverstanden, unter der Bedingung der vollen Realisierung des Gesetzes ,Über die Wiederherstellung der Rechte der repressierten Völker‘ auf den Grundsätzen der Gleichberechtigung aller Völker die einheitliche Karatschai- Tscherkessische Republik im Bestand der Russischen Föderation zu erhalten?“ Die in sich widersprüchliche Frage zielte vor allem auf den Erhalt des Status quo. „Wie kann man gleichzeitig für die Wiederherstellung der Staatlichkeit des Karatschai-Volkes und für die Einheit der Republik stimmen?“ fragt der Karatschaier Ketscherukow.

Eine Republik ohne eigene Verfassung

Die Befragung von 1993 wurde von Chubiew und Saweljew noch gemeinsam durchgeführt. Heute gibt es zwischen dem Vorsitzenden des Ministerrates und dem Parlamentspräsidenten einen tiefen Graben. Saweljew, der Russe, wirft Chubiew, dem Karatschaier, vor, er strebe eine Präsidialherrschaft an. Schon heute übe er eine Art Selbstherrschaft aus. Aufgrund des zerrütteten Verhältnisses hat man sich auf keine Verfassung einigen können.

Am 4. März war die Amtszeit der Parlamentsabgeordneten abgelaufen. Die letzten Wahlen hatten 1990 stattgefunden. Aus Moskau wurde eine Schlichtungskommission geschickt. Sie erreichte immerhin, daß das Parlament, mit von Jelzin per Ukas verlängerten Vollmachten, ein Wahlgesetz verabschiedete und für den kommenden Samstag Parlamentswahlen ansetzte.

Nach dem verabschiedeten Wahlgesetz soll der Präsident der Republik Karatschai-Tscherkessien vom russischen Präsidenten in Abstimmung mit dem Parlament Karatschai-Tscherkessiens ernannt werden. Solch ein Präsident von Moskaus Gnaden ist vermutlich ganz nach dem Geschmack von Parlamentspräsident Saweljew. Die „karatschaiische Expansion“ könne nur mit Hilfe von außen gestoppt werden, meinen die Führer der Russen und Tscherkessen. Boris Akbaschew, Vorsitzender der Tscherkessischen Bewegung „Adyga Chassa“, erzählt, er habe früher mit Chubiew Wodka getrunken. Heute wirft er dem Karatschaier Selbstherrschaft vor. Der ehemalige Management-Berater spricht von der Gefahr eines Bürgerkrieges. „Solange Chubiew hier ist, wird es keine Ruhe geben. Er will, daß die Karatschai-Tscherkessische Republik in eine karatschaiische umgewandelt wird. Wenn das passiert, wird es schlimmer als in Tschetschenien.“

Auf dem gemeinsamen Kongreß der Russen, Tscherkessen und Abasiner forderte man ein Referendum über die Frage, ob die Bevölkerung von Karatschai- Tscherkessien in die Stawropoler Verwaltungsregion zurückkehren will. Asret Ketscherukow von Dschamagat meint, die drei Nationalbewegungen verfolgten sehr weitgehende territoriale Ziele. „Heute wollen die Tscherkessen, Abasiner, Nogaier und Russen aus der ganzen Republik Karatschai- Tscherkessien zwei Drittel des Gebietes in die Stawropoler Verwaltungsregion überführen.“ Die wollten mit Hilfe der tscherkessischen Diaspora aus der Türkei und Syrien ein Groß-Tscherkessien aufbauen, meint Ketscherukow. „Um Groß-Tscherkessien aufzubauen, haben sich die Tscherkessen jetzt mit den Russen zusammengeschlossen.“ Unter Groß- Tscherkessien versteht man den Zusammenschluß aller adygischen Völker im Nordkaukasus. Dazu gehören die Tscherkessen, Abchasen, Adyger, Abasiner und die Kabardiner. Viereinhalb Millionen Adyger leben heute außerhalb Rußlands. Ihre Vorfahren flüchteten vor Vertreibung und Vernichtung vor allem während des Kaukasuskrieges in der Mitte des letzten Jahrhunderts.

Die Situation in der Republik ist auch deshalb dramatisch, weil das Regierungsoberhaupt Chubiew von allen Seiten angegriffen wird und somit als Integrationsfigur ausfällt. In der instabilen Situation fällt Moskau eine besondere Rolle zu. Wenn die russische Führung sich in Karatschai-Tscherkessien einmischt, könnte das zu einem weiteren blutigen Konflikt im Kaukasus führen.