Asa, eine 58jährige Karatschaierin, erinnert sich:

Den 2. November 1943 hat Asa noch ganz genau im Kopf. Sie war damals sechs Jahre alt und lebte mit ihrer Familie in Teberda. Morgens kamen die Soldaten des Geheimdienstes. „All unsere Sachen mußten wir dalassen. Kühe, Hammel, Honig.“ Die Karatschaier wurden in Viehwaggons nach Mittelasien verschleppt. Während die Väter der karatschaiischen Familien an der Front gegen die deutschen Okkupanten kämpften, wurden Frauen, Kinder und alte Menschen nach Asien deportiert. Ein Drittel des Volkes starb dabei an Hunger und Kälte. Stalin und sein Geheimdienstchef Lawrenti Berija bezichtigten die Karatschaier pauschal des Banditentums und der Zusammenarbeit mit den Deutschen. Deutsche Truppen hatten das Autonome Gebiet Karatschajewo im Sommer 1942 besetzt. Nach Angaben karatschaiischer Historiker haben nur einige hundert Karatschaier Hitlers Armee aktiv unterstützt.

Asa ist Muslimin und spricht eine Turksprache. Obwohl sie in der Sowjetunion gelitten hat, trauert sie dem großen Land hinterher. „Wir hatten genug Geld für die Ernährung und die Kleidung.“ Vieles, was sie heute verbraucht, hat sie damals angeschafft. Für die Deportation macht sie Stalin und Berija persönlich verantwortlich. Die Kommunistische Partei, deren Mitglied sie bis 1974 war, trägt keine Schuld. Als im Fernsehen über den Konflikt auf der Krim berichtet wird, hält Asa sich erschreckt das Kopftuch vor den Mund. „Überall gibt es jetzt Kriege“, sagt sie verzweifelt. „Die spinnen doch. Wollen unsere Schwarzmeerflotte in zwei Teile teilen.“ Immer wieder spricht sie von „unsere“, insbesondere dann, wenn es um die Armee und den Zweiten Weltkrieg geht.

Beim Thema „Tschetschenien ist dann jedoch nicht mehr die Rede von „unserer“ Armee. Diesen Krieg lehnt die Karatschaierin rundweg ab. Jelzin und Dudajew seien dafür verantwortlich. Es sei nicht schlecht, wenn Moskau vor den Muslimen in Rußland ein bißchen mehr Respekt habe. „Wenn die uns was tun, wird die gesamte islamische Welt auf unserer Seite stehen.“ Als Jelzin auf dem Fernsehbildschirm erscheint, entfährt Asa ein Schimpfwort aus der Tierwelt. „So nennen wir ihn hier“, fügt sie hinzu. Sie hat nichts gegen die Russen an sich, wohl aber gegen einzelne politische Führer. Sie schätzt die Russen als gute Nachbarn und nette Touristen.

Die Ermordung des Fernsehmoderators Listjew hat bei ihr einen ebenso tiefen Eindruck hinterlassen wie bei den Fernsehzuschauern in Moskau. Das Fernsehen, die russische Sprache und eine über hundert Jahre alte gemeinsame Geschichte haben eine Kulturgemeinschaft geformt, die mit westlichen Begriffen nicht zu erfassen ist. Foto: Ulrich Heyden