Die „gekreuzigten Brüder“ in Bosnien

Die serbisch-orthodoxe Kirche ist eine treue Verbündete des bosnischen Serbenführers Karadžić / Beide vertreten die gleiche klerikal-nationalistische Ideologie / Priester an vorderster Front  ■ Aus Belgrad Paul Hockenos

Durch den weiten, kellerartigen Innenraum der im Bau befindlichen Sankt-Sava-Kathedrale in Belgrad hallen gelegentlich Hammerschläge. Die Arbeit an dem wuchtigen Gebäude, das eines Tages die größte christlich-orthodoxe Kirche im Balkan sein wird, geht wegen Geld- und Materialmangel nur langsam voran — eine Auswirkung des UN-Embargos gegen Restjugoslawien.

„Dies ist genau die Stelle, an der die Türken vor vierhundert Jahren die Überreste des heiligen Sava, des Schutzpatrons der Serben, verbrannt haben“, sagt Branco Pesić, der Architekt der Kathedrale, und weist auf das Zentrum der Baustelle hin. Die Geschichte der Serben, deren überwältigende Mehrheit christlich-orthodox ist, ist eng an die autokephale serbisch-orthodoxe Kirche gebunden. Unter dem Banner des Heiligen Sava hat sie während der 500 Jahre osmanischer Herrschaft die serbische Kultur verteidigt.

Heute führen die Serben wieder Krieg und sind wegen ihrer Politik im benachbarten Bosnien-Herzegowia international isoliert. In der Stunde der Not ist die orthodoxe Kirche wiederauferstanden als selbsternannte Hüterin der nationalen serbischen Interessen, die sie durch einen Bruch zwischen dem serbischen Präsidente Slobodan Milošević und der Führung der bosnischen Serben bedroht sieht. Während Milošević Sanktionen gegen seine ehemaligen Verbündeten verhängt hat, hat sich die kirchliche Hierarchie an die Seite der bosnischen Serben gestellt und kritisiert die Blockade gegen die „gekreuzigten Brüder westlich der Drina“. Als Milošević Mitte der achtziger Jahre als nationalistisch orientierter Reformkommunist an die Macht kam, eröffnete er der Kirche neue Möglichkeiten, so beispielsweise die Chance, die Sankt- Sava-Kathedrale wiederaufzubauen. Umgekehrt hat der Nationalismus der Kirche, den diese nun offener vertrat, die Stimmung weiter angeheizt, die Milošević nutzte, um seine Macht zu konsolidieren.

Heute ist der Rat der Bischöfe oder das Episkopat dominiert von nationalistischen Hardlinern, denen ein wichtiger Einfluß auf Patriarch Pavle zugeschrieben wird. In offiziellen Stellungnahmen wird dem „gottlosen Milošević“ vorgeworfen, den bosnischen und kroatischen Serben einen „ungerechten Frieden“ aufgezwungen zu haben. Der jüngste Friedensplan der Bosnien-Kontaktgruppe unterminiert nach Ansicht des Episkopats die Schaffung eines Großserbien.

Zusammen mit einigen kleinen rechtsextremen Parteien ist die Kirche eine der letzten Unterstützer der bosnischen Serben. Bischöfe, Patriarch Pavle eingeschlossen, reisen regelmäßig nach Pale, um sich mit dem bosnischen Serbenführer Radovan Karadžić zu treffen. Im serbisch kontrollierten Teil Bosniens stehen die Priester an vorderster Front, sowohl im sogenannten „Parlament“ als auch bei den Kämpfen, wo Einheiten von Soldaten und sogar Waffen gesegnet werden, ehe es in die Schlacht geht. „Die bosnischen Serben haben der Kirche alles gegeben, was sie wollte“, sagt Dejan Anastasijević, Redakteur der serbischen Wochenzeitung Vreme. Religionsunterricht ist Pflicht, Schulbücher, inklusive naturwissenschaftliche, sind in kyrillischer Schrift geschrieben, und alle religösen Feiertage werden streng eingehalten.

Nach Auffassung des Philosophen und führenden serbischen Demokraten Mladan Zitović vertreten die Kirche und die bosnischen Serben die gleiche klerikal- nationalistische Ideologie und teilen die Vision einer traditionellen, patriarchalischen Gesellschaft. „Das ist eine fundamentalistische, antiwestliche Ideologie“, kommentiert Zivotić. „Das ist etwas, was selbst Milošević nicht akzeptieren kann.“ In Serbien selbst hat die Kirche daher auch weniger Erfolg bei der Umsetzung ihrer politischen Ziele. Im letzten Jahr hat Milošević gegen ein von der Kirche unterstütztes Gesetzesvorhaben zur Einschränkung von Abtreibungen ein Veto eingelegt. Im Gegensatz zur Argumentation von „Lebensschützern“ im Westen argumentierten nationalistische Geistliche, daß eine liberale Abtreibungspolitik die serbische Bevölkerung dezimiere und so das Überleben der Nation aufs Spiel setze. In Kirchenkreisen heißt es, daß die Geistlichkeit und die Gläubigen keineswegs geschlossen hinter dem Episkopat stehen. Aber abweichende Meinungen aus den unteren Rängen der streng hierarchisch aufgebauten Kirche hört man nur selten. Der 81jährige Patriarch Pavle gilt dabei als anständiger, aber unpolitischer Mann, der über den Krieg tief betroffen ist. In der Öffentlichkeit verurteilt er Vertreibungen und andere Kriegsverbrechen, weist jedoch die Schuld „allen drei Seiten“ zu.

Radikale kirchliche Kreise sprechen demgegenüber offen von der „türkischen Aggression“ gegen die christlichen Serben, der „Kreuzigung“ und dem „Leiden des serbischen Volkes“. Einige politische Beobachter weisen jedoch darauf hin, daß ein zu ungestümes Vorpreschen der Kirche schaden könnte. In Serbien sind viele kriegsmüde und warten ungeduldig auf ein Ende der Sanktionen. Wenn die Kirche ihre Rolle überzieht, könnte sie sich bald in der gleichen Isolation wiederfinden wie ihre Verbündeten, die bosnischen Serben.