Es ging nicht um die Finger in den Spaghettis

■ betr.: „Anspruch auf Wildwuchs“, „Probleme mit dem Putzdienst“, „Entschuldigung – Kinderladen kind“, taz vom 29. 5. 95

[...] Endlich weiß ich, wie banal das alles war, was wir wollten, was wir taten: ein paar rumspinnende Eltern, die ihre Kinder mit den Fingern essen lassen und zur falschen Zeit nackt herumlaufen. Ist das das Geschichtsbewußtsein der Kinder von damals? Spiel nicht mit den Schmuddelkindern von heute. Was sind das für Maßstäbe?

Wer weiß heute noch, was für eine Pädagogik in öffentlichen Kitas üblich war? 1968? Vor zwei Jahren veröffentlichte eine Zeitung erneut den Text von Adorno „Erziehung nach Auschwitz“, als Antwort auf die erneute politische Hoffähigkeit rechtsradikaler und nationalistischer Denkweisen. Es wäre sehr produktiv gewesen, wenn die Debatten, die wir geführt haben Anfang der siebziger Jahre, Anfang der neunziger wiedererwacht wären. Ich bin stolz darauf, zu einer Generation zu gehören, die nicht blind und taub durch die Gesellschaft gelaufen ist, sondern nach der Geschichte gefragt hat, nach der Produktion autoritären Denkens und Handelns. Diese Erzählung über die nicht eindressierten Tischmanieren erinnert mich so fatal an die Reaktion unserer Eltern.

Es ging mitnichten um die Finger in den Spaghettis, es ging um die Frage nach nicht hierarchisch und autoritär geprägten Erziehungs- und Lebensformen. Es ging mitnichten um irgendwelche BetreuerInnen, die meinten, sie müßten nun auch noch nackt herumlaufen, es ging um das Aufbrechen von Mustern sexueller Macht und Unterdrückung. Ich kenne die Irrtümer, die Krisen, es waren meine. Vielleicht habe ich gerade deshalb keine Lust, dieses nicht vorhandene Geschichtsbewußtsein zu ertragen.

„Ihr seid doch gescheitert“, sagt die Tochter zur Mutter, während sie den Kakao an ihrem Tisch schlürft. Sie hat gerade die Gesamtschule verlassen, hat Schülerladen, Kinderladen und Krabbelladen hinter sich, eine zeitlang hat sie das Jugendzentrum besucht, heute Abend will sie ins Kulturzentrum, vorher liest sie noch die taz, demnächst will sie in eine WG ziehen – selbstverständlich für ein Mädchen von 18 Jahren. „Ist dir schon mal aufgefallen“, antwortet die Mutter, „daß die Basis, auf der du lebst, von der Generation vor dir erstritten worden ist, daß die Strukturen, in denen du lebst, vor 25 Jahren schlicht nicht existiert haben?“

Mein Geschichtsbewußtsein sagt, daß politisches und gesellschaftliches Handeln sich lohnt, weil es in der Lage ist, Veränderungen herbeizuführen. Die Kinderladenbewegung hat die gesamte pädagogische Debatte in der Republik aufgemischt. Längst haben pädagogische Veränderungen auch in Kitas die Situation verändert. Die Frage der Demokratie, die Frage der Selbstverwaltung, die in den politischen Bewegungen der Zeit der Kinderläden aufgeworfen wurden, sind nicht mehr wegzudenken und längst institutionalisiert. Aber genau diese neue Realität war und ist die Antwort auf Hierarchie und autoritäres Denken. Ein bißchen mehr von der Debatte, die bei uns zu heiß gelaufen ist, würde heute kaum schaden.

Es langweilt mich seit Jahren, daß politische, gesellschaftliche Veränderungen nicht wahrgenommen werden, obwohl sie bitter, schwer und fröhlich erkämpft wurden, statt dessen werden die Realitäten an den rosa Wolken gemessen und erscheinen immer und selbstverständlich als Scheitern.

Besonders ärgerlich empfinde ich aber diese Frauenbilder: Die Frauen haben in den Kinderläden nur geputzt und die Männer diskutiert. Wer weiß schon, daß die ersten Kinderläden von den aufmüpfigen Frauen im SDS gegründet wurden, die nicht vorhatten, sich auf die zweite Reihe schieben zu lassen. Und selbstverständlich wurde versucht, das alte wunderbar eingespielte Rollenspiel auch im Kinderladen weiterzuführen. Nur die Frauen haben sich das nicht gefallen lassen. Reihenweise sind Beziehungen genau an diesen Machtstrukturen gescheitert. Die Frauen haben sich gestärkt gerade durch die Strukturen der Kinderläden aus Beziehungen gelöst...

Mitnichten ging es nur darum, wer mit welchem Spielzeug spielt, wer die Finger in den Spaghettis hatte oder nicht. Es waren Debatten um Individuum und Gesellschaft; um Macht und um Veränderung, um Solidarität und politische Aktivität, um Sehnsüchte und Visionen. Ich hatte Teil an den Irrtümern und Visionen meiner Generation, darüber bin ich froh, das ist viel. Eins weiß ich sicher, diese Gesellschaft ist veränderbar, wenn wir daran arbeiten und es wollen. [...] Barbara Weber, Hannover

Unsere beiden Kinder (heute 27 und 16 Jahre alt) haben sogenannte antiautoritäre Kinderhäuser besucht. Inzwischen sind sie zu ganz „normalen“ Menschen herangewachsen, die es verstehen mit der „richtigen“ Hand die Gabel zu halten und sogar noch Erbsen auf ihr zum Mund führen können, ohne dabei ihre Finger bemühen zu müssen. Sie standen auch nicht unter dem Gruppenzwang, sich nackt ausziehen zu müssen, das haben sie ganz von allein getan, wenn es ihnen angenehm und/oder zu warm war.

Ich finde die Beiträge der kinderladengeschädigten AutorInnen geradezu läppisch, beinhalten sie doch die von Politikern und Medien gleichermaßen geäußerten Schuldzuweisungen an die Kinderladeneltern, für die Fehlläufe der heutigen Jugendlichen verantwortlichzu sein: Die sogenannten antiautoritären Kinderläden hätten die heutige orientierungslose und zum Rechtsradikalismus neigende Jugend hervorgebracht. Im Zusammenhang mit dem Bericht über die bundesweite Tagung der Elterninitiativen, die sich auch heute noch politisch definieren, bekommen diese Beiträge einen infamen und denunziatorischen Charakter. B. Tüllmann, München

Allmächtiger! Zwei Opfer der antiautoritären Verzeihung! Opfer? Ist das nun nicht etwas hochgestapelt?

In unserem Kinderladen, in der Urbanstraße, gab es keine Biokost, keinen widerlichen Möhrensaft; die Kleinen wurden mit Fischstäbchen, Pommes, Kaugummi und hin und wieder mit Tiefkühlkost ernährt. Denen ist das ausgezeichnet bekommen.

Natürlich sollten die nicht mit irgendwelchen Knarren spielen, aber schlau wie sie waren, hatten sie dann verschiedene Schießprügel, die sie versteckten; aber den aufmerksamen Äuglein des „Betreuers“ entging das nie: warfen wir die Dinger weg, spielten sie eben mit irgendeinem Holzstück.

Antiautoritäre Erziehung: Aber natürlich. Wenn die lieben Kleinen beim kleinen Gemüsefritzen Obst klauten, dann sagten wir immer: Laß den Krauter in Ruhe, wenn ihr schon unbedingt klauen müßt, dann geht in einen großen Laden; und richtig, irgendwann machten sie sich auf den Weg gen Karstadt...

Da hat Frau G.(e)Duldig allerdings recht: Den meisten Zoff gab's unter den Erzeugeren; sonntags trabten wir jahrelang zum „Elternabend“ und die waren nun wirklich des öfteren sehr sehr streßig. Kurzum: Es war eine schöne Zeit – sage ich als einer der Erzeuger... Bernd Kramer, Berlin-Neukölln