Alles Schleef, Einar wacht

Das deutsche Drama lebt – als Sexualkundeunterricht. Doch Einar Schleef siegt mit einem geriatrischen Beitrag beim Mülheimer Wettbewerb  ■ Von Gerhard Preußer

Die Entscheidung fiel allzu schnell. Nach ein paar langatmigen Statements und einigen fahrigen Diskussionsversuchen fand man, daß man sich eigentlich einig sei. Die Jury des Mülheimer Stückewettbewerbs stimmte fast einstimmig für Einar Schleefs „Totentrompeten“. Dann die nötigen Worte des Oberbürgermeisters, Urkundenübergabe an den „zufällig“ anwesenden Autor, Danksagung. Schluß.

Man hat gelernt. Im letzten Jahr war die öffentliche Jurydiskussion zur Krisennachtsitzung ausgeartet und hatte peinliche Einblicke in die Schwächen der Wettbewerbsorganisation ermöglicht. In diesem Jahr war man auf reibungslose Organisation bedacht. Doch die Dramaturgie, die Juryentscheidung als Inszenierung, war kläglich. Wer sich öffentlich präsentiert im Kulturbewertungsbetrieb, muß sich nicht nur an seine Zeiten und Längen halten, sondern sich auch wirksam in Szene setzen. Der Preisträger hätte mehr verdient als vorformulierte, einhellige Bewunderung.

„Totentrompeten“ ist ein altes Stück, nicht nur ein Stück über alte Menschen. Es wurde Ende der siebziger Jahre geschrieben, kurz nach der Übersiedlung Schleefs in die BRD, aber erst in diesem Jahr uraufgeführt. Daß es das beste neue Stück der Spielzeit 1994/95 ist, ist eigentlich ein melancholischer Witz. Es ist ein Abgesang nicht nur auf die DDR, sondern auf den Sozialismus, es ist ein heiter verzweifeltes Nachsinnen über das Ende des Lebens am Ende einer Utopie. Was die Jurymitglieder über die künstlerische Qualität des Textes sagten – es gelinge ihm, „Bewußtseinsströme à la Joyce“ auf die Bühne zu bringen (Friederike Roth), er sei „radikal durchgeformt“ (Thirza Bruncken), er verbinde Komödie und Tragödie schon in jedem Satz (Günter Rühle), er sei ein „wunderbares Kammerspiel über das Altwerden“ (Walter Hinck) – alles das trifft zu. Und Einar Schleef ist ein derart singulärer und vielseitiger Künstler, daß er jedes Preises würdig ist. Aber was „Totentrompeten“ zum Stück des Jahres 1995 macht, ist höchstens das Inkrafttreten der Pflegeversicherung oder die allgemeine Verspätung, mit der sich das Bewußtsein ausbreitet, was die Vergangenheit des östlichen Teiles für den neuen Gesamtstaat bedeutet.

Das Stück, das durch den Ost- Bonus in die Mülheimer Auswahl gelangte, war Christoph Heins Immobilien-Komödie „Randow“. Das Prädikat „wie Tschechow“, das das Stück offensichtlich anstrebt und das von der Jury auch am häufigsten als Qualitätskriterium angewandt wurde, konnte ihm nicht verliehen werden. Als „Kolportagedebakel“ (Klaus Völker) wurde es abgetan. Bleibt nur zu bedenken, daß in der Publikumsdiskussion sich ein Zuschauer über Heins dreiste Erfindung von haarsträubenden Grundstücksgeschäften des Hartmann- Bundes mokierte und vom Autor die Antwort bekam, das seien Fakten. Es gibt also einiges, das sich zu kolportieren lohnt.

Im Mittelpunkt der diesjährigen Stückauswahl aber stand die Sexualkunde. In den Stücken von Kroetz, Jelinek und Jonigk konnte man über Exhibitionismus, Videosex und Gebärmutteramputation einiges lernen. Wenn es ein aktuelles Thema der deutschsprachigen Gegenwartsdramatik gibt, dann ist es dieses zeitlose. Franz Xaver Kroetz' „Der Drang“ ist eine grelle Volkstheaterkomödie, die das Kunststück fertigbringt, ihre Figuren dennoch nicht an das Gelächter zu verraten, Elfriede Jelineks „Raststätte oder sie machen's alle“ dagegen ein philosophisches Rededuell im Kloakenmilieu, und das intellektuell brillanteste und in der Analyse des Zeitgeists schärfste Stück des Jahrgangs. Der Aufsteiger der Saison, der 29jährige Thomas Jonigk, der in dieser Spielzeit drei Stücke zur Uraufführung bringen konnte, wurde mit seinem Erstling „Du sollst mir Enkel schenken“ präsentiert, einer sprachlich hochtoupierten Studie der Nöte einer schwulen Sozialisation. Die Konzentration auf drastisches Gerede über Sexualität als effekthascherisch oder skandalsüchtig abzutun, greift zu kurz. In allen drei Stücken geht es um den Zerfall des Begriffes der Normalität. Und das ist nicht nur eine Frage der Sexualität, obwohl es hier den einzelnen am existentiellsten trifft, sondern eine Grundfrage der sich individualisierenden Gesellschaft.

Die anderen beiden Autoren, die man noch der jüngeren Generation zurechnen könnte, Matthias Zschokke und Wolfgang Maria Bauer, bewegten sich auf gegenläufigen Bahnen. Bauers „In den Augen eines Fremden“ war schon im letzten Jahr für Mülheim ausgewählt worden, dann aber nicht gezeigt worden, weil die Jury die Uraufführungsinzenierung von Leander Haußmann für zu stückfern hielt. Nun war es in einer treulich den Willen des Autors exekutierenden, geschmackvollen Aufführung des Wiener Schauspielhauses in Mülheim zu sehen und erntete wenig Zustimmung. „Unglaublich gekunsthandwerkelt“ werde hier, hieß es, und „koltesk“ war das positivste Adjektiv, das der Jury einfiel. Fand man in Bauers Stück die Vieldeutigkeit allzu aufdringlich, so fand man in Zschokkes Stück die Eindeutigkeit allzu vordergründig. Matthias Zschokkes „Die Alphabeten“ ist eine Satire auf den Kulturbetrieb, die schon deshalb in Mülheim gezeigt werden mußte, weil sie mit einer Preisverleihung beginnt und endet. Das Publikum amüsierte sich bei einer hervorragenden Inszenierung des Deutschen Theaters über die vergebliche Liebesaffäre zwischen einer Literaturpreisträgerin und dem Juryvorsitzenden, und so erhielt es die Publikumsstimme. Die Jury fand es weniger lustig, „zu larmoyant, zu konstruiert“ fand man das. Nur Klaus Völker lobte die gekonnte Leichtigkeit des Stückes und gab ihm bei der Abstimmung seine Stimme, so daß der Endstand (einschließlich der Publikumsstimme) 5:2 für Schleef gegen Zschokke lautete.

Preisträger sei ein seltener Beruf wie Kammerjäger oder Feldmauser, obwohl Preisetragen eigentlich keine besonders anstrengende Tätigkeit sei, heißt es in Zschokkes „Alphabeten“. Schleef beteuerte in seiner Danksagung denn auch seine Armut und erleichterte sich dennnoch die Last des Preises: er will die Hälfte des Preisgeldes den drei Darstellerinnen der Uraufführung seines Stückes schenken.