Warten auf dicke Kassandra

Weil sich der HSV weigert, ein konkurrenzfähiges Unternehmen zu sein, werden die Geschäfte ohne den Klub oder auf seine Kosten gemacht  ■ Aus Hamburg Arne Fohlin

Nun will der „Dicke“, wie ihn seine früheren Mitstreiter auch offen nennen dürfen, doch nicht: Uwe Seeler (58) möchte nicht HSV-Präsident werden. Zwar überlege er noch, heißt es, doch ein Gespräch mit Ronald Wulff, dem noch amtierenden Chef des HSV, könne er vor dem 20. Juni nicht haben – wegen geschäftlicher Verpflichtungen.

Was bedeutet: Eigentlich hat er jetzt schon keine Zeit, sich dem Kleinkram um Verträge und Geschäftsstellenverwaltung zu widmen. Die Kassandra des einstigen Spitzenklubs aus der Heimatstadt des FC St. Pauli will sich auch künftig auf die Rolle des Sehers und Rufers beschränken. Gott des HSV möchte er nicht sein – diesen Part sollen andere übernehmen, Personal vom Schlage eines Ronald Wulff (50), seines Zeichens Dentallaborbesitzer und eher das Gegenteil dessen, was die Person „Uns“ Uwe Seeler in der Öffentlichkeit auszeichnet: servil nach oben, trittsicher nach unten.

Was ist bloß passiert in Hamburg, wo zuletzt 1983 mit dem Sieg im Europapokal der Meister das Gefühl genährt wurde, fußballerisch keine Konkurrenz fürchten zu müssen? Menschen, die unterhalb von Harburg wohnen, dem südlichsten Teil der Millionenstadt, ist nur schwer zu erklären, weshalb die Lokalzeitungen seit Monaten ein Standgericht nach dem anderen mit dem real existierenden Menschenmaterial des HSV abhalten – weshalb nur das Wehgeschrei? Abstiegsangst hat der HSV während der laufenden Spielzeit nie gehabt. Existenzsorgen auch nicht – woher also die Aufregung, nur weil man (Rückrundenbilanz: 9:21 Punkte) mehr wirr als irr spielt? Und warum tut man das?

Es liegt an allem, hat aber vor allem mit der speziellen Geschichte des Vereins zu tun. Daß der Trainer Benno Möhlmann einen eher rigiden Stil pflegt und auch nicht davor zurückschreckt, den WM- Helden Yordan Letchkov auszumustern, zählt nicht: Der Bulgare kann die Legende, ein Star zu sein, nur aus dem wohlbekannten New Yorker Kopfballtor zimmern – beim HSV hingegen ragte er bestenfalls einige Zentimeter heraus. Daß die Mannschaft überhaupt nicht als Team funktioniert? Nichts Besonderes – der 1. FC Köln beispielsweise kennt dieses Problem auch. Was den HSV ständig kriseln läßt, ist seine Unfähigkeit, zu einem modernen Verein zu werden. Als vor ein paar Jahren der Geldhagel über die europäischen Wettbewerbe zu prasseln anfing, hatte sich der Klub just in sportliches Mittelmaß davongeschlichen. Nun kann er nicht auf den Glanz gutangelegten Geldes setzen (wie Dortmund oder Bremen) und schon gar nicht imagemäßig auf eine Corporate Identity mit seiner städtischen Kundschaft – wie der KSC und der 1. FC Kaiserslautern. Allein: Der HSV hat sich nie um seine Freunde gekümmert. Man war schließlich sowieso wer, was brauchte es da schon öffentliche Gunstbezeugungen?

Am liebsten verschweigen würde man, daß es den FC St. Pauli gibt. Doch das funktioniert nicht, weil der Millerntorklub selbst in Zweitligazeiten immer bessere Imagewerte besitzt als jener Verein, der seit 30 Jahren nicht in Hamburg trainiert, sondern etwas nördlicher in Norderstedt, einer Stadt aus Reihen- und mittleren Hochhäusern, in denen Soziologen das beste Anschauungsmaterial für die Welt der Angestellten und Kleinkrämer finden können.

Der letzte, der beim HSV begriff, daß der Verein den Schulterschluß mit der linksliberalen Fußballschickeria wagen müßte, war der Manager Heribert Bruchhagen, ein Mann von milder Jovialität und unhamburgischer Klarsicht. Der mußte gehen, bevor seine Pläne, den HSV als Borussia Dortmund des Nordens zu verkaufen, überhaupt fortschreiten konnten.

So dümpelt der HSV heute vor sich hin – und wird auch morgen dümpeln. Aus den vereinsinternen Streitereien kann momentan niemand als Gewinner hervorgehen: Präsident Wulffs Kritiker sind selbst nicht sponsorenstubenrein: Gerhard Flomm, eine Mischung aus Manager und Grüß-August, der gut bezahlt eine Art Notmanagement übernommen hat, machte mit dem in Krisenzeiten stets urlaubenden Wulff immer gemeinsame Sache, damals, als der HSV wenigstens gelegentlich noch siegte.

Nun fällt offenbar auch der Traumkandidat Seeler aus. Was wäre das gewesen: Der Mann auf dem Chefsessel, der wie kein anderer eine Mischung aus Wirtschaftswunderschweiß und Aufstiegsbewußtsein verkörpert, diese Seele von einem Fußballer, einer, den sie lieben, weil er nie brillant war, aber Tore schoß so schön wie kein anderer, ein Leithammel ohne Führerattitüde – vorbei, Seeler mag nicht. Man vermutet, daß er genug zu tun hat mit seinen Geschäften, als daß er einen Rufschaden in der Schlangengrube HSV riskieren könnte.

Ronald Wulff wird zum Heimspiel heute gegen Eintracht Frankfurt nicht ins Volksparkstadion gehen. Er behauptet, Drohanrufe zu bekommen. Wahrscheinlicher ist, daß er sich nicht der Schmach aussetzen will, nicht gegrüßt zu werden. Kürzlich erst teilte der HSV- Sponsor TV Spielfilm der Truppe grußlos mit, künftig gefälligst nicht mit dem Firmenlogo aufs Feld zu laufen – um nicht in den Geruch zu kommen, auf Loser zu setzen. Und erregte damit gleich republikweit mehr Aufsehen, als das mit einem sportlich reüssierenden Partner möglich wäre. Was bedeutet, daß man auch in diesen schweren Tagen dicke Geschäfte machen kann. Entweder, wie Seeler, ohne, oder aber wie der Milchstraßen-Verlag auf Kosten des Hamburger Sport- Vereins.