■ Der FDP-Parteitag als Indiz: Die alte BRD kehrt zurück
: Endlich wieder Mittelmaß

Eines muß man der FDP lassen – mit der Wahl Wolfgang Gerhardts liegt die Partei im Trend, vollzieht sie eine gesellschaftliche Entwicklung gleichsam intuitiv mit, ohne sich selbst darüber im klaren zu sein. Dabei ist es eine ganz andere Frage, ob ihr das an der Wahlurne viel nutzen wird. Erst einmal bleibt festzuhalten: Die Partei agiert aus der Mitte der Gesellschaft heraus.

Das läßt sich an mehreren Faktoren festmachen: erstens der Wahl des neuen Vorsitzenden. Gerhardt verkörpert für die FDP die Hoffnung auf Stabilität und ist Ausdruck des Gefühls: Jetzt, in der Stunde der Not, bitte keine Experimente! Mit Gerhardt hat die Partei sich darüber hinaus einen Mann an die Spitze gestellt, der die bundesrepublikanische Wende-FDP der 80er Jahre repräsentiert, der in Hessen den Wiederaufstieg aus dem Tal der Tränen nach dem Wechsel der Partei von Schmidt zu Kohl schaffte. Mit anderen Worten: Gerhardt ist durch und durch ein Kind der Bundesrepublik.

Daß die FDP sich langsam wieder einem Zustand Status quo ante 89 annähert, zeigte auch der Umgang mit den Delegierten aus den neuen Ländern. Ihr auffälligstes Merkmal war, daß sie keine Rolle spielten. Im Duell Gerhardt versus Möllemann wurde die Haltung des jeweiligen Kandidaten zum Osten nicht einmal erwähnt, wichtig war vielmehr der Landesverband NRW. Die erfolgreiche Integration der ostdeutschen Landesverbände wurde dagegen über die Wahl des stellvertretenden Parteivorsitzenden demonstriert. Einer der drei Stellvertreterposten war für den Osten reserviert, diese Vereinbarung wurde stillschweigend hingenommen, und es wurde eben einer der Kandidaten ohne jede Anteilnahme gewählt. Den Delegierten aus dem Westen war es ersichtlich gleichgültig, wer der drei Konkurrenten letztlich den Zuschlag erhielt. Hauptsache, die Ostquote war abgehakt.

Ein Signal setzen wollte die Partei dagegen mit der Wahl der anderen stellvertretenden Parteivorsitzenden, Cornelia Schmalz-Jacobsen. Die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, die sich in den letzten Jahren von ebendieser Bundesregierung eine Demütigung nach der anderen gefallen lassen mußte, ohne daß ihre Partei für sie eingetreten wäre, genau diese Ausländerbeauftragte soll jetzt mit ihrem Anliegen ein verschärftes Profil der Partei signalisieren. Genau aus diesen Profilierungsgründen will Herr Gerhardt noch in dieser Woche ernsthaft mit dem Kanzler über ein neues Staatsbürgerschaftsrecht reden und sich für ein Einwanderungsgesetz stark machen.

Zu diesen Signalen paßt der demonstrative Beifall der Partei für die letzte aktive Liberale im Ministerrang, Sabine Leutheusser- Schnarrenberger. Allein die Ankündigung, sich für einen „ganzheitlichen“ Liberalismus einsetzen zu wollen, verschaffte ihr „standing ovations“. Keine Frage, daß die Mehrheit der Delegierten Frau Leutheusser-Schnarrenbergers Wunschkatalog unterstützte und sich ab jetzt für die Straffreiheit nicht gewalttätiger Sitzblockaden bis zur rechtlichen Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften stark machen will.

Wem alle diese subtilen Hinweise auf den Stand der FDP noch nicht hinreichend für eine neue Positionsbestimmung waren, bekam es in der Debatte um den Stahl- Flügel in aller Deutlichkeit gesteckt: Wir wollen kein Abdriften nach rechts, keine Konkurrenz zu den Reps, keine Haider-Variante für Deutschland. Statt Jörg Haider durfte dessen schärfste Konkurrentin, Heide Schmidt, die die FPÖ aus Protest gegen den Rechtskurs verlassen und eine neue liberale Partei gegründet hat, in Mainz sprechen. Ob aus echter Überzeugung oder als Huldigung an den Zeitgeist, die Botschaft war unüberhörbar: Nationalliberal, nationalistisch gar, nein danke, wir sind ganzheitlich liberal.

Parteien spiegeln gesellschaftliche Trends, und das hat auch die FDP in Mainz getan. Auf einen einfachen Nenner gebracht, könnte man sagen: Die Bundesrepublik kehrt zurück. Das macht sich erst einmal ganz oberflächlich an den Themen der politischen Auseinandersetzung fest. Mit Macht drängt sich im Problembewußtsein der Deutschen die Zerstörung der Umwelt wieder an die erste Stelle in der politischen Agenda. So wie die Ökofrage mit dem Fall der Mauer im Herbst 1989 verschwand, ist sie jetzt wieder da, wo sie hingehört – ganz oben auf der Dringlichkeitsliste. Dasselbe gilt für die Auseinandersetzung um die ethnische Pluralität der Republik. Nach den Mordbrennereien an Flüchtlingen und EinwanderInnen, während der unseligen Asyldebatte, gepaart mit dem schon fast schicken Bekenntnis, mit den „Kanaken und Fidschis“ nichts zu tun haben zu wollen, sah es zeitweilig so aus, als rutsche in Deutschland ein bestimmter zivilisatorischer Standard unversehens weg, den das Land Bundesrepublik nach und nach von den anderen westlichen Demokratien adaptiert hatte. Die Bundesrepublik war nie ein „ausländerfreundliches Land“, wie Kohl zu den unpassendsten Momenten glaubte behaupten zu müssen – aber die Mehrheit der Bevölkerung war bereit, sich damit auseinanderzusetzen, daß in einem modernen westeuropäischen Staat unterschiedliche Ethnien und Kulturen zusammenleben können müssen. Genau diese Erkenntnis setzt sich gerade wieder bei der Mehrheit der nunmehr 80 Millionen Menschen umfassenden Bundesrepublik durch.

Was sich bei den Bundestagswahlen im Oktober letzten Jahres bereits abzeichnete und durch die Wahlen in NRW und Bremen bestätigt wurde, hat jetzt der FDP- Parteitag noch einmal dokumentiert. Knapp sechs Jahre nach dem Mauerfall ist die erste Etappe des „Zusammenwachsens“ zwischen Ost und West abgeschlossen. Die BRD hat die DDR erfolgreich geschluckt. Zum Glück! Nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht, sondern vor allem bei der Druchsetzung gesellschaftler Normen und den Erwartungen, die das System zu erfüllen hat. Besonders erfreulich ist, daß das System den Schluckauf „Rückruf in die großdeutsche Geschichte“ mittlerweile erfolgreich als heiße Luft hat entweichen lassen. Der Befund Hans Magnus Enzenbergers, 1988 auf die Bundesrepublik gemünzt, hat sich auch für die gesamtdeutsche Republik als richtig erwiesen. „Die Deutschen“, so Enzensberger in dem Essay „Mittelmaß und Wahn“, „haben ihre Geschichte eigenhändig gesprengt, ein gewalttätiges Abbruchunternehmen, das ihr Land zu einer Ausgeburt des Neuen machte.“ Die in den 50er Jahren gescheiterte Restauration ließ sich auch in den 90ern nicht wiederauflegen.

Nach fünf Jahren Aufbau Ost mit allen Irritationen, die dazugehören, sind wir wieder da angekommen, wo die Bundesrepublik ihren Ort hatte: im Mittelmaß. Jürgen Gottschlich