Durch und durch dialektisch

Nervöser Werkstoff: Gummi – eine Ausstellung im Dresdner Hygiene-Museum  ■ Von Barbara Häusler

Man muß es gleich sagen: Diese Ausstellung ist eine von Verrückten für Verrückte. Klar kennt man Gummi, denn kaum ein Material, das nicht ausschließlich nährt oder kleidet, begleitet einen derart beharrlich ins und durchs Leben. Vom Schnuller und Fläschchensauger zur Schwimmente, vom Ball zum Gummistiefel, vom Schwimmring zum Fahrradreifen, vom Radierer zum Schnipsgummi zwecks Krampenschießen; vom Spülhandschuh zur Zigarettenspitze, vom Einmachring zum Kondom: Gummi ist allgegenwärtig und verbindet dabei aufs Unaufwendigste Spaß und Nützlichkeit. Aber das ist eben, man ahnt es schon, keineswegs alles. Was Gummi ist und was alles daraus sein kann – das, geben wir es ruhig zu, überstieg bislang sowohl unsere Vorstellungskraft als auch unsere Reflektionsbereitschaft.

Nach „Asbest“ (1991) hat sich das Dresdner Hygiene-Museum nun einem weiteren, eigentlich unspektakulären Material zugewandt, das gleichwohl eine wesentliche Funktion im Alltag hat. Die Ausstellung entstand in Kooperation zwischen dem Hygiene-Museum und dem Berliner Museum für Verkehr und Technik – eine Tatsache, die durch die geläufige Konnotation von Gummi und Kondom nicht nur während der Vorbereitungen gern Auslöser für kalauernde Altherrenwitze war.

Aber den Ausstellungsmachern Ulrich Giersch und Ulrich Kubisch ging es ums Ganze: nämlich „die Geschichte und Bedeutung eines Werkstoffs in Alltag und Verkehr, Hygiene und Medizin, Kunst und Technik“. Am Anfang steht natürlich die Materialgewinnung. Man erfährt, wie die Samen des „weinenden Baums“ im 19. Jahrhundert verbotenerweise von Südamerika nach Südostasien wanderten, wo riesige Plantagen entstanden, in denen die Kolonialherren mit der systematischen Ausbeutung sowohl der Pflanzen wie der eingeborenen Arbeiter begannen. Man erfährt, wie der aus den angeritzten Bäumen auslaufenden Milch, dem Latex, seine Kautschukanteile entzogen und wie sie weiterverarbeitet werden.

Und man erfährt, wie im Zuge der technischen Weiterentwicklung durch chemische Zusätze und Verfahren daraus stabile Autoreifen, harte Schlagstöcke oder zarte Wäschebänder werden. Materialeigenschaften, die man auch mit Kunststoffen erreichen kann – allerdings nur teilweise. Synthetischer Kautschuk ist beispielsweise hitzebeständiger, aber die Elastizität von Naturgummi erreicht er nicht; und wenn doch, hat er andere Nachteile. Das gesamte Spektrum der Eigenschaften des Naturstoffs ist künstlich schwer herstellbar – und teurer. Auch wenn man auf Kunststoffe nicht ganz verzichten kann: Kautschuk hat die größere Palette.

Das vielseitige Material boomte: Allein zwischen 1910 und 1920 stieg die weltweite Produktion von Naturgummi von 95.576 auf 347.339 Tonnen. Seine dialektischen Qualitäten hat man auch damals schon erkannt: Gummi sei, titelte 1929 die Gummi-Zeitung, „ein Rohstoff des nervösen Jahrhunderts“, Mobilmacher und Beschleuniger. Aber eben auch ein Material, so Ulrich Giersch in seiner Einleitung des Katalogs, „mit dessen Hilfe sich die moderne Nervosität auch wieder kurieren läßt“. Es läßt also zwar Autos rasen, aber es dämpft auch Geräusche; Regenmäntel schützen gichtige Glieder, Fingernoppen fürs Schreibmaschineschreiben die Taktilität sensibler Sekretärinnenfingerspitzen; es ermöglicht sexuelle Aktivität und beruhigt die Angst vor unerwünschten Folgen.

Dehnen und Straffen, Durchlassen und Abwehren, Federn und Pressen: Die Formeln für die dialektischen Materialeigenschaften und Funktionen des Gummis lassen sich an den ausgestellten Objekten durchbuchstabieren – ob in der Abteilung für Verkehr und Technik oder der für Alltag, Hygiene und Medizin. Ihre Anzahl ist erschlagend, dabei war die Materialbeschaffung oft schwierig. Viele Firmen haben aus Kostengründen ihre Archive abgeschafft. Aber zum Glück gibt es Sammler – Verrückte, deren Verrücktheit sich nutzbringend auf die Macher übertragen hat und auch den Besucher ergreift. Bilderrahmen, Broschen, Kämme; Isolierungen für transatlantische Unterseekabel; eine selbstgeschneiderte Babywindelhose aus Halle, Jahrgang 1951; Wärmflaschen und Eisbeutel; Zahnbürsten und Massagegeräte; Schwämme, Schläuche, Quietschtiere; Werbeplakate und Miederbänder; Stützstrümpfe und eine neugotische Gummimadonna; sowie natürlich Gummistiefel, Reifen und Radiergummis, zahllos.

Selbst der Kondomvitrine lassen sich noch einige Erkenntnisse und Neuheiten entnehmen: Neben der zunehmend offensiver werdenden Verpackungsgeschichte, kann vor allen Dingen ein bisher noch nie gesehenes Modell in Form einer Hand mit alpinem Blumendekor überzeugen. Ausgerechnet vor dem Kapitel Gummisex hat man sich ansonsten aber ziemlich prüde gedrückt. Wer nach den Schweinereien fragt, wird an die Kunst verwiesen. Ansonsten künden nur drei langweilige Statuetten, ein Zapfensofa und zwei Schaufensterpuppen in multikultureller Gummiverkleidung (Spanien? Wilder Western? Fez?) von den elastischen Abgründen.

„Gummi – die elastische Faszination“ bis 8.10. im Deutsche Hygiene-Museum Dresden. Anschließend wandert die Ausstellung nach Berlin, Wien, Dortmund und Wolfsburg. Katalog, Nicolai Verlag, 400 Seiten, 35 später 68 DM