■ Das Portrait
: Der Kannibale

Wenn man Anfang der 70er Jahre irgendeinen beliebigen Teilnehmer der Tour de France fragte, wie denn wohl die heutige Etappe verlaufen würde, sagte der mit ziemlicher Sicherheit: „Das kommt auf den Kannibalen an.“ Der Kannibale, das war Eddy Merckx, der größte Radfahrer aller Zeiten, der das Feld der Fahrer fest im Griff hatte. Niemand wagte es, das Tempo zu verschärfen, wenn der Belgier die Devise ausgegeben hatte, daß heute mal ein Tag zum Bummeln und Erholen sei. Und wenn einer das Tempo verschärfte, dann war es Merckx selbst, der in seiner großen Zeit nahezu unschlagbar war. 1969 gewann er 47 Rennen, 1970 waren es 52 und 1971 sogar 54. Insgesamt ging er während seiner 14jährigen Profikarriere 445 Mal als Erster durchs Ziel.

1969 nahm Merckx, der heute 50 Jahre alt wird, erstmals an der Tour de France teil und gewann sie sogleich mit fast 18 Minuten Vorsprung. Vier weitere Tour- Siege folgten. Straßenweltmeisterschaft (drei Siege), Giro d'Italia (fünf Siege), Klassiker wie Mailand–San Remo (sieben Siege), Lüttich–Bastogne–Lüttich (fünf Siege) oder Paris–Roubaix (drei Siege) – alles kein Problem für den Mann aus Meense-Kiezegem, der sich als guter Kannibale 1972 selbstverständlich auch den Stundenweltrekord einverleibte, welcher ihm erst 1984 vom Italiener Francesco Moser abgejagt wurde.

Gleichermaßen stark im Flachland und am Berg, gab sich Eddy Merckx nicht, wie etwa der Spanier Miguel Induráin, mit Gesamtsiegen bei großen Rundfahrten oder auf Zeitfahretappen zufrieden, er wollte immer gewinnen. „Eines Tages wird er dafür bezahlen müssen“, mutmaßte der Franzose Jacques Anquetil, der die Tour ebenfalls fünfmal gewann. Doch Merckx zeigte bis zu seinem Rücktritt 1978 kaum Erscheinungen von Verschleiß, konnte die Tour allerdings nach 1974 nicht mehr gewinnen. 1975 mußte er nach Jahren der Dominanz bei der Frankreich-Rundfahrt die erste Niederlage hinnehmen, als der Franzose Bernard Thevenet am Ende mit 2:47 Minuten Vorsprung in Paris ankam. So blieb es Merckx verwehrt, mit sechs Tour-Siegen alleiniger Rekordhalter zu werden.

Eddy Merckx, der größte aller Radfahrer Foto: taz-archiv

Heute verdient der Belgier viel Geld mit der Produktion von Fahrrädern der Marke „Eddy Merckx“, während sein Sohn Axel versucht, in die Fußstapfen des Vaters zu treten. Nicht unbedingt zu dessen größter Freude: „Es wäre mir lieber gewesen, er wäre Fußballer geworden.“ Matti Lieske