Press-Schlag
: Jubel interruptus

■ Nicht ganz wohlgeordnet vollzog sich St. Paulis Aufstieg in die Bundesliga

Die Welt war nicht in Ordnung im Wilhelm-Koch-Stadion am Sonntag um 16.45 Uhr. Die bleierne Fassungslosigkeit dieser Augenblicke war nicht eingeplant. Schließlich ist es doch so: Geht der Fan zu einem Spiel, an dessen Ende eine Aufstiegsfeier angesetzt ist, dann hat er auch eine gewisse Idee vom Protokoll der Gefühlsaufwallung. Wichtig ist die Manifestation bestimmter Momente, hierbei wiederum wesentlich ist der Schlußpfiff, der als Segen verheißt: Es ist vollbracht.

Bis kurz vor diesem Startsignal für rührende Szenen des Glücks hatte sich alles gut angelassen. Die Profifußballer des FC St. Pauli taten am letzten Spieltag gegen die Amateurkickern in spe des FC Homburg mehr als nur ihre Pflicht für den dritten Einzug des Vereins in die erste Liga. Nach 87 Minuten lagen sie 5:0 in Führung. Aber hatten sie wirklich gewonnen? Dann geschah nämlich, was sich beim besten Willen und mit krudester Phantasie vorher kein Mensch hätte ausmalen können, ein höchst absonderlicher GAU, der eine gerade und dringend nach Entladung verlangende Aufstiegseuphorie einfach pulverisierte. Der Schiedsrichter pfiff – und Tausende stürmten in Mißachtung aller Hinweise zur Zurückhaltung und einer Handvoll Ordner den Platz, um zu tun, was sie sich entweder seit Minuten oder vielleicht auch schon seit Jahren erträumt hatten: den Rasen küssen, herumhüpfen, sich in die Arme fallen, Tränen vergießen, krakeelen, daß die Bundesliga ihr einstmals berühmtes „Freudenhaus“ endlich wiederhat. Konsterniert verschaffte sich der Stadionsprecher Gehör: „Das war nicht der Schlußpfiff.“ Irritation im Wilhelm-Koch- Stadion.

Und Rainer Wulf erklärte, daß der Pfiff einen Elfmeter angekündigt habe, die Fans sofort das Spielfeld verlassen müßten, sie einen Abbruch riskierten, mit einer Wertung des Spiels als verloren, mit dem Scheitern im Aufstiegsrennen zu rechnen sei. Noch mehr allgemeine Bestürzung. Frohen Herzens an das nahe Ende von vier zähen Zweitligajahren denkend, hatte sich die Millerntor-Gemeinde im Geiste und mit Sentiment darauf vorbereitet, in wenigen Augenblicken den Triumph zu genießen, und nun wurde sie so schändlich um den ersehnten Höhepunkt betrogen. Und das augenscheinlich auch noch von überzeugten St.-Pauli-Anhängern.

Nostalgisch verklärt und akribisch haben Fan-Veteranen in dieser Saison bemängelt, wie erlahmt die kreative Energie in den eigenen Reihen sei, wie normal Verein und Fans geworden. Einen solchen Ausbruch von sturem Eigensinn und selbstverliebter Anarchie wie den der Rasen-Okkupierer aber hatte damit wohl niemand provozieren wollen. „Diese Idioten – machen alles kaputt!“ schimpfte die Haupttribüne, „Ihr seid doof!“ skandierten alle Ränge gemeinsam denen auf dem Platz zu.

Als nach einer Viertelstunde stummen Chaos Vizepräsident Christian Hinzpeter verkündete, das Spiel sei „offiziell für beendet erklärt und mit 5:0“ für St. Pauli gewertet, folgte ein Erleichterungsjubel, der als verstörtestes Aufstiegsgejohle in die Liga-Geschichte eingehen könnte. St. Paulis Kicker hatten sich längst in ihre Kabine zurückgezogen, um Polonaisen zu tanzen, Weißbier zu trinken und Zigarren zu schmauchen. Klassisches Programm. So feiert man traditionell sich selbst. Bis hingegen im Stadion das Durcheinander von Erwartung und Wirklichkeit bewältigt war, dauerte es noch einige Zeit. Schweigend statt selig lärmend trotteten die Leute davon.

Später wurde dann doch noch alles einigermaßen gut und fügte sich wieder in den vorgefaßten Plan der Feierlichkeiten. Die Massenansammlung auf dem Spielbudenplatz auf der Reeperbahn war launig und feucht. Die Spieler schunkelten auf dem Vordach eines Konzerthauses und trugen auf T-Shirts den Dank an den Präsidenten Weisener, dessen Geldspritzen den Verein überhaupt noch existieren lassen: „Erste Liga. Ohne Papa Heinz wären wir nicht dabei.“ Man sang Reeperbahn-Schlager und jubelte sich langsam wieder in Stimmung. Manche wagten sogar schon die Antizipation des kommenden Saisonfinales. „Nächstes Jahr feiern wir den Nichtabstieg.“ Und wenn der Fußball- Gott gutmütig ist, gibt es dann auch einen ordentlichen Schlußpfiff. Katrin Weber-Klüver