Nicht gefunden, sondern gesucht

Monumental: Raffael Rheinsbergs „Documenta der Kleinplastiken“ in Berlin  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Kommt man an einer Arbeit von Raffael Rheinsberg vorbei, sieht den weich ausgeleuchteten Ort, wo die Objekte liegen, und geht weiter: Sofort stellt sich das Gefühl ein, etwas „anderes“ berührt, eine Terra incognita gesehen zu haben. Das gilt auch für die „Documenta der Kleinplastiken“, wenn man sie durch die Glastür im Untergeschoß der Neuen Nationalgalerie sieht, kaum einen Kilometer südlich des neuen Berliner Fixpunktes, des Reichstags.

Wer den Saal betritt, wird staunen; über das massive Schnaufen des Uniformierten, und alle zehn Minuten zusammenschrecken wegen des aufgeregten Frequenzschlenkers, den sein Funkgerät von sich gibt. Denn Rheinsbergs Arbeit ist eine von ungewöhnlicher Stille. Sie spricht, aber ihr Sprechen ist das rhetorische Geflüster guter Plastik.

Versammelt sind: An die dreihundert Dinge aus Eisen (vor allem), Messing, Kupfer, Stahl und diversen Legierungen. Runde Dinge und eckige, geschlossene und durchbrochene, längliche und gedrungene. Wie immer bei Rheinsberg siegt die Klarheit der Anordnung über das Heterogene des Materials. Das heißt: nahezu Unvergleichbares wird vergleichbar. Es sind schmale Riegel aufgerichtet, die im „Horizont“ des Ensembles fast verschwinden. Es ducken sich winzige gekrümmte Dinger in gefährdeten Randpositionen. Auffällige Stücke – wie ein labyrinthischer, flacher Block mit quecksilbrigem Schimmer – strahlen Energie ab auf die umliegenden Objekte. Es gibt kein Ding, das nicht zählt.

Vor zehn Jahren war Rheinsberg in Berlin einer der wenigen bewunderten „jüngeren“ Künstler. Nun ist er doch Anfang Fünfzig, und allerorten taucht eine Arbeit auf, die aus dem reichen Fundus stammt, den Rheinsbergs Werk darstellt. Gerade die Tatsache, daß seine Objekte, Ensembles, Installationen aus gefundenem Material sind, macht sie im Vergleich und retrospektiv stark: Raffael Rheinsberg hat sie aus der Masse des Vergehenden herausgeeist und einen Modus gefunden, ihr Vergängliches darzustellen. Genauer: das Material ist nicht gefunden, sondern gesucht. So ist es zu erklären, daß für die „Kleinplastiken“ ein Entstehungszeitraum von sechs Jahren angegeben wird (1987–1993). Die weitläufige Bodenskulptur ist im letzten Jahr von der Nationalgalerie angekauft und jetzt zum ersten Mal von Rheinsberg für das Publikum aufgebaut worden.

Es gibt drei Ebenen, das Werk zu lesen. Die erste ist die kindliche: man sucht in den einzelnen Dingen entweder Architektur (ein Turm, ein Schwimmbad) oder Güter des täglichen Lebens (eine Vase, ein Thermometer). Die zweite besteht in der Übung, die Herkunft des Objekts und seine „ursprüngliche Position“ in einer Maschine zu definieren (eine Schaltung, ein Bolzen) und gleichzeitig ihre „kindliche“ Deutung nicht aus den Augen zu verlieren. Die dritte Ebene: man läßt sich auf Rheinsbergs ironisches Titelspiel ein und betrachtet das Ensemble wirklich als „Documenta“, also als Querschnittsausstellung gegenwärtiger Kunst. Mühelos findet man – sich fünf Zentimeter groß denkend – ein paar Serras, Alf Lechners, einen Chillida und mehr oder weniger deutliche Anspielungen auf die halbabstrakte Skulptur im Außenraum der 60er Jahre. Sämtliche geliehene Formen ins Genre der „Kleinplastik“ einzugliedern ist wohl kein schlechter Witz: Rheinsbergs Arbeit ist natürlich monumental – auf der Ebene des Konzepts.

Bedenkt man die Diskrepanz zwischen einem winzigen „Serra“ und einem riesigen „Thermometer“, kommt man an den suggestiven Kern von Rheinsbergs Arbeit: der Maßstab, der nicht deklariert wird. Die Metaphorisierung, die Verdichtung von Bezügen, ereignet sich dort, wo Rheinsberg einen Gegenstand findet, wendet, wählt, ihm eine Standfläche gibt und ihn ins Ensemble einsetzt. Er gibt Objekten, die einst verborgen funktionierten, ein architektonisches Gesicht. Allein die Entscheidung, die Symmetrie oder Asymmetrie von Fundstücken in der Längs- oder Querrichtung der Installation zur Geltung zu bringen, zeigt sich bei dauerhafter Begehung als im Detail nachvollziehbare Entscheidung. Man darf das Skulpturenfeld begehen, sollte aber immer wieder zum Rand zurückkehren oder vor die Glastür.

Rheinsbergs Arbeit wird präsentiert in einem Programm, das jeweils eine(n) Künstler(in) aus dem Osten einem westlichen Pendant gegenüberstellt; in diesem Fall steht für den Osten Maren Roloff mit (absolut „westlichen“) schwarzen Gummiskulpturen. Wieder ergibt sich der Eindruck, daß die Verknüpfung weder der einen Arbeit nützt noch der anderen. Die Nationalgalerie sollte monographische Ausstellungen nutzen, um sich zu bekennen.

Neue Nationalgalerie, bis 9. Juli, jetzt täglich von 9–22 Uhr (!)