■ Geiselnahme in Budjonnowsk – und was danach?
: Die dritte Macht

Die Geiselnahme von Budjonnowsk nähert sich ihrem Ende, anscheinend lassen die Terroristen die meisten Geiseln frei. Zweihundert Opfer gehen auf das Konto des Militärs, das das besetzte Krankenhaus stundenlang beschossen hat. Da Ministerpräsident Tschernomyrdin selbst es war, der die (im Fernsehen übertragenen) Verhandlungen mit dem Terroristenführer Schamil Bassajew führte, wird sich die russische Seite gezwungen sehen, die ausgehandelten Bedingungen für die Befreiung der Geiseln einzuhalten. Vom Ende des russischen Krieges gegen Tschetschenien zu reden wäre allerdings mehr als leichtsinnig. In seiner Vernichtungsoffensive hat sich das russische Militär zusammen mit den anderen anwesenden „Staatsgewalten“ als ein für den eigenen Staat hochgefährlicher, korrupter, schlecht ausgebildeter und undisziplinierter Haufen entpuppt, eine Soldateska, die reif für den Bürgerkrieg ist.

Man rätselt weiter, wie zweihundert schwerbewaffnete Terroristen unbemerkt 150 Kilometer bis nach Budjonnowsk vordringen konnten. Man fragt, wie viele Millionen Dollar hat das gekostet? Wer hat die Journalisten, die mit den Terroristen verhandeln sollten, am Eingang zum Krankenhaus von russischer Seite unter Beschuß genommen? Als die aufgebrachten Journalisten herauszukriegen versuchten, wer geschossen hat, antworteten alle anwesenden „Gewalten“ nur „Wir nicht“, bis ein Offizier tiefsinnig bemerkte: „Das war die dritte Macht.“ Der wütende orthodoxe Priester, der auch zur Delegation gehörte, fragte daraufhin: „Meinen Sie den Heiligen Geist? Für ihn bin ich zuständig.“

Doch die Antwort war nicht falsch, denn „die dritte Macht“ ist nichts als die totale Verantwortungslosigkeit und der unsägliche Zynismus, den alle Ebenen der Macht demonstrierten. Dementsprechend war es nicht herauszufinden, wer den Befehl zur Samstagsoffensive, die nach vierstündigem Beschuß des Krankenhauses scheiterte, gegeben haben soll. Nachts irrten in der Stadt bewaffnete Männer herum, die aus Angst, Wut oder auch im Suff um sich feuerten. Die Gefahr des Bürgerkrieges resultiert nicht aus verhärteten Fronten, sondern aus der völligen Schutzlosigkeit der Bevölkerung vor der Gewalt seitens verselbständigter bewaffneter Gruppen.

Die Geiselnahme in Budjonnowsk wird sicher schwere Folgen für das Land haben. Sie kann als Vorwand dienen, um die für Jelzin wie für die Mehrheit der Staatsduma unerwünschten Wahlen zu verschieben. Wiederholt sich die terroristische Aktion, so ist die Verhängung des Ausnahmezustandes zu erwarten, der die Verfassung außer Kraft setzen würde. Katastrophal wirkt die Geiselnahme sich auch auf die angespannten nationalen Beziehungen in Rußland aus. Die „Kaukasienphobie“ ist seit der Perestroika zu einer Massenerscheinung geworden, die genauso häufig unter Intellektuellen wie unter Arbeitern anzutreffen ist. Die kaukasischen Männer, die sich mit Handel und Spekulationen durchschlagen, zugleich aber solidarische Gemeinschaften bilden, sind ein idealer Sündenbock für das Auseinanderfallen des Sowjetimperiums und die mißlungenen Reformen. Die „Fremdenwut“, die sich bis jetzt mit seltenen Ausnahmen – in Verbalinjurien oder in Erpressungen der „Schwarzen“ – durch die Miliz entlud, kann in offenen Pogromen gegen alle „kaukasisch aussehenden“ Individuen münden, besonders wenn sie Restaurants- oder Geschäftsbesitzer sind, was sie automatisch als „Mafia“ charakterisiert.

Die russische Bevölkerung war von Anfang an gegen den Krieg in Tschetschenien, obwohl sie nichts getan hat, um ihn zu verhindern. Laut Umfragen spricht sie auch Jelzin und der gegenwärtigen Regierung die Legitimation ab; anders ausgedrückt: Die Bevölkerung meint, die Regierung vertrete ihre Interessen nicht, sondern folge nur ihrer Gier und ihrem egoistischen Machtstreben. Deswegen empfinden Russen auch keine Verantwortung für die in ihrem Namen durchgeführte Politik. Die logische Folge: die Russen wollen keine Verantwortung für den Genozid gegen die Tschetschenen tragen. Sie sehen keinen Zusammenhang zwischen der Massenvernichtung der Bevölkerung in Tschetschenien und der Geiselnahme von Frauen und Kindern in Budjonnowsk. Deswegen ist die Meinung einer dort interviewten Frau, nach der Terroristen „sich an der Regierung und am Militär rächen sollen, nicht an den einfachen Einwohnern, unter denen auch viele Flüchtlinge und andere Nationalitäten friedlich miteinander leben“, geradezu typisch für die Stimmung der gemäßigt gestimmten Russen. Sie sehen sich als Opfer, nicht als passive Helfershelfer der Machthaber. Der Zusammenhang zwischen dem Verbrechen in Tschetschenien und dem Massaker in Budjonnowsk wird verdrängt. Es wäre allerdings auch eine Herausforderung an das kollektive Bewußtsein der Russen, unter den gegebenen Umständen anzuerkennen, daß auch sie Täter sind.

Dies alles geschieht vor dem Hintergrund der wachsenden Unzurechnungsfähigkeit Jelzins. Die Tage der nationalen Tragödie verbringt er im Ausland, sich den „glorreichen sieben“ als ohnmächtiger Großmachtherrscher peinlich aufdrängend. In der verzweifelten Handlung der Terroristen sieht er nur Anlaß, die „Welt vor dem Terrorismus zu warnen“ und seinen Krieg zu rechtfertigen, in dem ein ganzes Volk als „Terroristennest“ vernichtet werden soll. Kein Zufall, daß das Plädoyer eines Duma-Deputierten, gegen Jelzin ein Impeachment-Verfahren einzuleiten, nur die Unterstützung weniger Abgeordneter erhielt.

Die tschetschenischen Kamikaze-Kämpfer haben ihrem Volk einen schlechten Dienst erwiesen. Die Russen bekommen jetzt die Auswirkung des unerklärten Kriegs gegen die eigenen Bürger zu spüren, der Staat entfernt sich noch weiter vom Rechtsstaat, noch mehr versinkt er in Willkür und Destruktivität, in Korruption und Verantwortungslosigkeit der Behörden. Und was sich an wirtschaftlicher Erholung zeigt, hat jetzt alle Chancen, im bodenlosen Faß des tschetschenischen Krieges zu verschwinden. Sonia Margolina

Schriftstellerin und Publizistin, lebt in Berlin