Armenien fährt Reaktor in Erdbebengebiet an

■ 1989 hatte die Sowjetunion das AKW wegen Bürgerprotesten abgeschaltet

Berlin taz) – Die Kaukasusrepublik Armenien hat am Montag ihr einziges Atomkraftwerk wieder in Betrieb genommen. Einer der beiden 440-Megawatt-Reaktoren des AKW Oktemberjan wurde nach mehr als sechsjährigem Stillstand wieder angefahren. Das Atomkraftwerk liegt in Metsamor, rund 28 Kilometer von der armenischen Hauptstadt Jerewan entfernt. Der Reaktor läuft zunächst im Testverfahren und soll im Herbst dieses Jahres in Betrieb gehen. Noch in diesem Jahr soll auch der zweite Reaktorblock folgen.

Das AKW war im Frühjahr 1989 nach stürmischen Protesten der armenischen nationalistischen Bewegung stillgelegt worden. Der Grund: Im Dezember 1988 hatte ein starkes Erdbeben Armenien heimgesucht und mindestens 25.000 Menschen getötet. Der Primärkreislauf des AKWs ist nach Auffassung der Betreiber für ein Erdbeben der Stärke 9 ausgelegt. Das Erdbeben im Dezember 1988 hatte im Epizentrum aber die Stärke 10 erreicht.

Armenien will mit Hilfe des Atomkraftwerks die seit Jahren wegen des Krieges mit der Nachbarrepublik Aserbaidschan andauernde Energiekrise lösen. Schon 1991 hatte im armenischen Parlament die Debatte über das Wiederanfahren der beiden Druckwasserreaktoren vom Typ WWER-V230 begonnen. Im Herbst 1992 war die Energiesituation so katastrophal, daß die Regierung das AKW trotz des großen Risikos kurzzeitig wieder anfuhr. Im Januar 1993 drohte es daraufhin in Metsomar zu einer Katastrophe zu kommen. Der Strom für die Nachkühlung der immer noch mit Brennelementen beladenen Reaktoren fehlte. Der damalige armenische Regierungschef Chosrow Arutjunian warnte: „Die Systeme des Atomkraftwerks, die derzeit ohne Stromversorgung sind, sind praktisch außer Kontrolle und stellen eine potentielle radioaktive Gefahr da.“ Auch die Regierung schätzte, daß es zwischen 20 und 100 Millionen Dollar kosten würde, das AKW wieder in Betrieb zu nehmen. Zwischenzeitlich waren die stillgelegten Anlagen nämlich geplündert worden.

Bei der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) ist man sich denn auch einig, daß Reaktoren dieser Baureihe nicht auf westliche Standards nachrüstbar seien. Der AKW-Typ verfügt nicht einmal über eine Stahlbetonhülle für den Reaktor. Das 1976 in Betrieb genommene Kraftwerk entspricht mit seiner Technik dem längst stillgelegten AKW in Greifswald. Armenische Expertinnen wie Victoria Ter-Nikogossian äußerten Bestürzung: „Das ist sehr, sehr gefährlich. Das Atomkraftwerk kann gar nicht sicher laufen, und ein Unfall wäre das Ende Armeniens.“ Jerewan liegt in der Hauptwindrichtung.

Dennoch hatte sich die russische Regierung im vergangenen Jahr bereit erklärt, den Armeniern einen Kredit zur Inbetriebnahme zu gewähren. Aus der Reaktorruine sollte ein russisch-armenisches Kraftwerk werden. Moskau stellte auch die Kernbrennstäbe zur Verfügung. Die offizielle Eröffnung, zu der auch der russische Regierungschef Viktor Tschernomyrdin erwartet wird, wurde wegen der Geiselnahme im südrussischen Budjonnowsk zunächst auf den 27. Juni verschoben. ten/nh