Das eigentliche Ziel heißt Boris Jelzin

■ Rußlands Parlament spricht der Regierung das Mißtrauen aus / Nicht nur Kommunisten, sondern auch Reformer wollen Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten / Moskau droht Tschetschenen

Moskau (AFP/taz) – Die Staats- duma ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen: Einen Tag nach dem Ende der Geiselnahme von Budjonnowsk sprach eine klare Mehrheit von 240 gegen 72 Abgeordenten der Regierung von Ministerpräsident Viktor Tschernomyrdin das Mißtrauen aus. Die Parlamentarier folgtem einem Antrag der national-konservativen „Demokratischen Partei“, den diese bereits vor Beginn der Geiselnahme eingebracht hatte und der sich gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung richtete. Doch während diese vor allem angesichts des seit Wochen steigenden Rubelkurses kaum zu einer Abwahl geführt hätte, stimmten jetzt selbst Reformpolitiker wie der Jabloko-Vorsitzende Gregori Jawlinski für den Mißtrauensantrag.

Jawlinskis Kritik an der Regierung richtete sich allerdings nicht gegen Tschernomyrdin, dessen Vorgehen er ausdrücklich verteidigte. Ziel sei jedoch die Bildung eines neuen Kabinetts, in dem die Ministerposten für Verteidigung, Inneres und Nationalitäten mit neuen Leuten besetzt werden sollen. Eine Umbesetzung der Regierung schloß auch Georgi Satarow, ein Berater von Boris Jelzin, nicht aus. Dem gesamten Rücktritt des Kabinetts werde der Präsident aber kaum zustimmen. Laut russischer Verfassung hat das gestrige Mißtrauensvotum zunächst keine direkten Konsequenzen. Erst wenn das Parlament innerhalb von drei Monaten einen zweiten Mißtrauensantrag annimmt muß der Staatspräsident reagieren. Er kann dann entweder die Regierung entlassen oder die Duma auflösen. Bei der Debatte über den Mißtrauensantrag vertraten zahlreiche Politiker die Ansicht, daß auch Jelzin abgesetzt werden solle. Die Kommunisten haben nach eigenen Angaben bereits zwei Drittel der Unterschriften von Dumaabgeordneten zusammen, die für die Einleitung eines Amtsenthebungsverfahrens nötig sind. Und auch die Jabloko-Fraktion sucht – so Jawlinski gestern – nach einer „reelen Möglichkeit“ für die Entmachtung Jelzins. Gegen den Mißtrauensantrag stimmten fast nur Mitglieder der Fraktion von Ex-Premier Jegor Gaidar.

Einen Tag nach der Freilassung aller Geiseln hat Moskau die tschetschenische Führung aufgefordert, die Geiselnehmer innerhalb der nächsten drei Tage auszuliefern. Ansonsten würden die Kämpfe in Tschetschenien wiederaufgenommen. Bis Mittwoch 18.00 Uhr (16.00 Uhr MESZ) sollte die tschetschenische Delegation in Grosny zudem die Geiselnahme als „Akt des Terrorismus“ verurteilen. Die rund hundert Rebellen halten sich zusammen mit acht Journalisten in der Bergregion von Wedeno versteckt. her