Der Krieg darf wieder gedacht werden

■ Jahresgutachten der Friedensforschungs-Institute vorgestellt

Berlin(taz) – Wer Jahr um Jahr die gleichen trefflichen, aber von den Politikern gänzlich unbeachteten Analysen und Vorschläge unterbreitet, muß mit schwindender Aufmerksamkeit des Publikums rechnen. Die drei Friedensforschungsinstitute (das Hessische, das Hamburgische und das der evangelischen Kirche), die gestern in Berlin ihr Jahresgutachten vorstellten, sind sich dieser Gefahr nur allzu bewußt. Seit dem Völkerfrühling von 1989 fordern sie ein funktionsfähiges, rechtlich ausgestaltetes europäisches Sicherheitssystem, bejammern den Zustand, in den die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) versetzt worden ist, und predigen tauben Ohren, daß das beste Mittel gegen Kriege ist, sie gar nicht erst ausbrechen zu lassen. „Prävention“, so gestern Friedensforscher Reinhard Mutz, „ist eine spröde, komplizierte Materie.“ Was man vom Krieg nicht behaupten kann.

Das Gutachten versammelt in fünf Abschnitten europäische wie außereuropäische Kriegsszenarien, Grundprobleme friedlicher Streitschlichtung und Analysen zu Nuklearrüstung, Rüstungskontrolle und Waffenexport. Den Arbeiten fehlt jede Tendenz zur westeuropäischen Selbstbeweihräucherung, sie hüten sich davor, das Potential für Kriege nur in unterzivilisierten Breitengraden auszumachen. Auch in unserem idyllischen Friedensgarten, so meinen die Forscher, glimmt die Lunte, entwickeln Minoritätenprobleme und Grenzstreitigkeiten ihr destruktives Potential. Die Kategorie des „nationalen Interesses“ wird zunehmend hemmungsloser in Dienst genommen, um Militäreinsätze zu rechtfertigen. Noch ein Paradigmenwechsel, aber diesmal ein gefährlicher.

Längst im Griff geglaubte Problemstellungen beschäftigen uns aufs neue. Der gerade verlängerte Nonproliferationsvertrag wird durch Ankündigungen, mit unterirdischen Atomversuchen fortzufahren, buchstäblich unterminiert. Der Vertrag über die konventionelle Abrüstung in Europa ist dem Zusammenbruch nahe – der Westen, so meinen die Friedensforscher, würde hier Rußlands legitime Sicherheitsinteressen ignorieren. Auch nach Abschluß von Start I und II würden den atomaren Hauptmächten 3.500 atomare Sicherheitssysteme verbleiben. Wofür und gegen wen? Last, but not least: Angesichts eines weltweiten Rückgangs der Waffenexporte hat sich die Bundesrepublik auf Platz zwei der Rangliste hochgehandelt und dabei die Exportbeschränkungen drastisch gelockert. „Wir“ dürfen also in so friedliche Weltregionen wie Algerien, Indien und Pakistan liefern.

Nicht allzu überraschend haben sich alle drei Institute entschieden gegen die „Osterweiterung“ der Nato, also gegen die Aufnahme zunächst dreier ostmitteleuropäischer Staaten (Polen, Ungarn, Tschechien) in das westliche Militärbündnis, ausgesprochen. Ein solcher Schritt stigmatisiere Rußland, eventuell auch die Ukraine und Weißrußland, ohne die Sicherheit der Ostmitteleuropäer einen Deut zu verbessern. Er sei aber auch mit der Struktur der Nato unvereinbar. Diese sei eine Verteidigungs-Interessengemeinschaft, könne keine „Ordnungsfunktion“ gegenüber dritten Staaten wahrnehmen. Nicht ohne Süffisanz wies Bruno Schoch vom Hessischen Institut darauf hin, daß alle Argumente gegen die Osterweiterung bereits vom State Department geliefert worden seien – vor 1994.

Das Hamburger Institut hat, unter Federführung Wolfgang Zellners, sogar ein Projekt laufen, das die Einstellung der politischen Eliten Ostmitteleuropas zur „Osterweiterung“ vor Ort erkundet. Zwischenergebnis: Das Beitrittsgesuch zur Nato sei nur ein Vehikel, um den Eintritt in die Europäische Union zu erleichtern. Spätestens hier wird die Analyse, um es höflich zu sagen, unterkomplex. Es gibt massive Bedrohungsängste in Polen und anderswo, und sie speisen sich nicht aus irrrationalen Ängsten, sondern aus rationalen Befürchtungen, die Stabilität der russischen Demokratie betreffend. Die Friedensforscher müßten sich schon mehr einfallen lassen denn Vertröstung, um diese Befürchtungen zu zerstreuen. Zum Beispiel klare Positionen und Forderungen angesichts des Tschetschenien- Krieges, der Drohkulisse gegen Estland oder der offenen Parteinahme für die serbischen Aggressoren auf dem Balkan. Christian Semler