Entdeckung der Langsamkeit

■ "Immer sachte, wir haben Zeit!": TU-Pädagogen wollen Fahrschülern defensives und ökologisches Fahren beibringen / Umerziehung des Autovolkes wird schwierig

Auf Berlins Straßen geht es ruppig zu. Wer nicht schnell genug ist, verliert, es wird gehupt, gedrängelt, geschimpft. Gnadenlos herrscht der PS-Stärkere. Für die zaghaften Fremden vom Land haben die Berliner Piloten nur ein müdes Lächeln, rücksichtslose Verachtung oder auch den Stinkefinger parat. „Der Verrohung der Sitten auf unseren Straßen“ wollen einige mutige Männer der Technischen Universität zumindest in Berlin entgegentreten. Sie planen nichts Geringeres als die Erziehung einer neuen Generation von Autofahrern.

Der Startschuß fällt in der kommenden Woche: Zwei Gruppen von zusammen 24 Schülern im Alter zwischen 18 und 22 Jahren werden in einer eigens an der Arbeitsstelle für verkehrspädagogische Forschung und Lehre aus der Taufe gehobenen Fahrschule den schweren Anfang wagen. Drei Monate werden vergehen, bis sie die herkömmliche Prüfung ablegen können, bis dahin aber müssen sie mehr büffeln und proben als konventionelle Fahrschüler. Im Gegensatz zu diesen aber sollen sie dann auch wissen, daß „der Autoverkehr nicht nur gefährlich, sondern in hohem Maße umweltbelastend und gesundheitsschädlich ist, also wo immer möglich reduziert und entschleunigt werden muß“, wie es in einem Projektpapier heißt.

Die TU-Fahrschüler sollen nicht das Gaspedal, sondern den Reiz der Langsamkeit für sich entdecken. Nicht das übliche „nun tritt doch mal druff“ wird Fahrlehrer und Diplomand Lothar Taubert seinen Schülern zuschreien, sondern leise sagen: „Immer sachte, wir haben Zeit.“

Doch die Umerziehung des deutschen Autovolks wird schwierig werden, weiß der mit der Ausbildung betraute Diplompsychologe Michael Walk. Ohne Fuß auf dem Gaspedal schwimmt schließlich keines der Blechmobile mit der grünen Welle. „Aber so, wie heute Auto gefahren wird, darf es nicht weitergehen, wir müssen anfangen umzudenken“, versucht Walk die Menschen für sein Projekt zu begeistern. Doch die Autoliebhaber unter den Journalisten zeigen sich renitent. Der Kollege von Radio 100,6 besteht auf seinem ganz eigenen Berlin-Fahrstil: „Ich fahr' nun mal gerne zügig Auto.“ Kein Grund zur Resignation für Walk: „Wir versuchen gar nicht, Sie zu ändern. Irgendwie sind wir Alten ja alle Kinder des Systems.“ Und weil die alten Kinder sowieso fahren wie und wann sie wollen, kümmert man sich an der TU um die Jungen. Der Leiter der Projektgruppe, Professor Adolf-Eugen Bongart, schwärmt sogar von einer Auto- und Umweltfibel für die ganz Kleinen.

Bis dahin aber, daß weiß auch Bongart, ist es noch ein langer Weg, der wahrscheinlich nie beschritten wird. Die umfassende Fahrschulausbildung wird teuer sein und viel Zeit beanspruchen, ob sich indes das Fahrverhalten der neuen Autofahrer tatsächlich auf Dauer ändert, ist angesichts der Sogwirkung der Bleifußfahrer zweifelhaft. Die Alternative wäre wohl nur, das Auto ganz und gar stehen zu lassen. Holger Heimann