Die Freiheit ist ein Suppentier

Jetzt hat die Volksbühne die Patenschaft für den bulgarischen Regisseur Ivan Stanev übernommen – auf der Hinterbühne inszenierte er Tschechows Künstlerdrama „Die Möwe“ antipsychologisch als Kolportagegroteske  ■ Von Petra Kohse

Wenn Theaterpublikum auf der Bühne plaziert wird, wirkt das eigentlich meist wie eine Bitte um mildernde Umstände. Aber Ivan Stanev kann man wirklich nicht vorwerfen, daß er sich anbiedert, seine Inszenierung von Tschechows „Möwe“ in der Volksbühne will die Zuschauer nicht ins Vertrauen ziehen. Der eiserne Vorhang bleibt nicht konspirativ geschlossen, sondern der Zuschauerraum wird als Prospekt verwendet, und auf der Hinterbühne sitzt man vor allem deswegen, damit man da unten nicht stört.

Parkett und Rang sind verhängt und leuchten blau beziehungsweise rot, davor läßt Meentje Nielsen zwei riesige weiße Engelsmöwenflügel strahlen. Symbolträchtig trikolorefarben ist der Hintergrund gestaltet, man blickt der Demokratie selbst ins leere Angesicht, mit erhobenem Zeigefinger wäre so die Richtung gewiesen, jetzt geht's an Tschechows Künstlerdrama.

Als Vorspiel stirbt zunächst der Autor – auf einem Bücherstapel. Eine mechanische Raupe kommt vorbeigekrochen, dann steht Grigori Kofman alias Tschechow wieder auf. Später versucht er, die vier Akte jeweils anzumoderieren, wird aber stets von der Bühne geschleppt. Man braucht ihn nicht, wird doch am Anfang rasch eine Stückzusammenfassung gegeben, damit sich das Spiel ungehindert vollziehen kann. Eine Leseprobensituation eröffnet das Drama von der ewigen Sehnsucht nach dem Unerreichbaren. Der 36jährige bulgarische Regisseur, dessen Deutschland-Karriere in Berlin vor sieben Jahren mit einem „Woyzeck“-Gastspiel begann und der in letzter Zeit ins Irgendwo abgetaucht war, inszenierte mit einigen Volksbühnenmitgliedern und Gästen wie Jeannette Spassowa. Sie ist die Nina, die vom erfolglosen und unglücklichen Jungdramatiker („Wir brauchen neue Formen!“) Trepljow (Bruno Cathomas) verehrt wird, die aber den erfolgreichen und ebenfalls unglücklichen Trigorin (Horst Westphal) liebt, der wiederum in den Fängen von Trepljows Mutter, der Schauspielerin Arkadina (Annekathrin Bürger) steckt. Außerdem gibt es noch Mascha (Meral Yüzgülec), die ihrerseits Trepljow liebt, später aber Medwedenko (Torsten Ranft) heiratet. Eine Komödien- und Tragödiensituation gleichermaßen.

Stanev läßt extemporieren und chargieren, dem proletarischen Medwedenko hat er gleich den ganzen Kopf rot gefärbt; es wird gestolpert und gehampelt, und dabei erstaunlich gut gespielt. Theater ist eitel, erfährt man, was ebensowenig überrascht wie die Tatsache, daß die Bretter der Volksbühne zu verpflichten scheinen. Zermanschte Melonen und exzessive Ausflüge in einen artifiziellen Privatton, Zucken, Husten, Fressen, Spucken kommen einem bekannt vor, ohnehin springt der Regisseur flott durch die Dialoge, montiert ein wenig Kafka hier, illustriert ein wenig Müller da.

Tschechow ganz postmodern, und wo in dem 1895 geschriebenen Drama nur zwei Jahre vergehen, sind es hier passenderweise hundert. Ereignisse aus der sowjetischen und deutschen, also weltverändernden Historie werden im Digest-Verfahren (Mauerbau – Perestroika – Mauerfall) annonciert, dann gibt es einen Film über einen Besuch von Boney M. in Moskau, mit reichlich „Rasputin“: Die Retortengruppe als angestaubte Botschafterin der neuen Kultur im alten Land; man sieht sie in Pelzmänteln, lachend. Danach geht es auf der Bühne noch schneller bergab.

In der Jetztzeit angesiedelt, werden Tschechows Gestalten endgültig zu Lemuren der Geldgesellschaft. Nina ist eine drogensüchtige Provinzschauspielerin geworden, Trepljow mittlerweile erfolgreich, das heißt: er steht auf einer Schreibmaschine, hat ein Geldstück als Monokel im Auge und den linken (!) Arm verloren. Und statt der Möwe, die Trepljow seiner Nina einst schoß, die diese Trigorin weiterreichte, der sie ausstopfen ließ und dann vergaß, steht am Ende eine Ente auf der Bühne: überlebensgroß und arg gerupft, dafür bekränzt. Das Artefakt der Freiheit ist das Suppentier.

Originell ist nichts an dieser Inszenierung, doch einiges stimmig. Tschechow antipsychologisch als Kolportagegroteske in zwei Stunden – das macht zuweilen großen Spaß, zumal die Darstellung der zu grellen Chargen umgemodelten Charakterrollen Klasse hat. Dann wieder würgt die Aufführung mächtig an ihrer Trivialität, wenn etwa ein Schuh als Telefonhörer verwendet wird und auch ein Fernseher nicht fehlen darf.

Mit Verve und Gestaltungswillen macht Stanev Theater, um zu zeigen, daß man auch Theater nicht mehr machen kann. Aber ihm fehlt das visionäre Trotzdem! von Patenonkel Castorf. Seine Kritik bleibt plakativ, sein Bilderreichtum zerstreut. Kein Überzeugungstäter, sondern ein Parvenü. Kurz vor dem Schlußapplaus geht der Eiserne auch wieder runter, aus der Raupe ist kein Schmetterling geworden – die Leere, die Stanev ringsum vermutet, hat er letztlich nur fröhlich zitiert.

Nächste Vorstellungen am 24., 25. und 30. 6., 19.30 Uhr, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Mitte.