Der nächste Machtkampf hat begonnen

Rußlands Parlament will seiner Auflösung durch Boris Jelzin durch ein Amtsenthebungsverfahren zuvorkommen / Bürgerrechtler kritisieren Verhandlungen in Grosny  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Das politische Klima in Moskau hat die Duma mit Verspätung aus dem Winterschlaf erwachen lassen. Zum ersten Male machen die Deputierten zumindest Anstalten, den Ereignissen vorauszueilen, anstatt ihnen hinterherzuhinken. Zuvorkommen wollen sie vor allem Boris Jelzin und der von ihm angekündigten Auflösung des Parlaments. Die Notwendigkeit, den eigenen Sitz zu verteidigen, hat einige Abgeordnete veranlaßt, ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten selbst zu fordern. Falls sie dafür die erforderliche Mehrheit fänden, wären Jelzin erst einmal die Hände gebunden. Er dürfte nach einem solchen Beschluß das Parlament nicht mehr antasten.

Der Initiative der Kommunisten schlossen sich gestern die Deputierten Gleb Jakunin und Ljew Ponomarjow von „Rußlands Wahl“ an. Die „Frauen Rußlands“ und Grigori Jawlinskis Fraktion „Jabloko“ hatten schon seit längerem zu verstehen gegeben, daß sich ihr Mißtrauen nicht gegen Ministerpräsident Tschernomyrdin, sondern eigentlich gegen den Präsidenten selbst und dessen Zusammenspiel mit den sogenannten Machtministern richtete.

Falls sich die erforderlichen 300 Stimmen in der Duma für einen Mißtrauensantrag gegen Boris Jelzin fänden, würde dies allerdings nur die politische Patt-Situation im heutigen Rußland vertiefen. Das Verfassungsgericht und der Föderationsrat, die in diesem Falle zustimmen müßten, bräuchten Wochen, wenn nicht Monate für ihre Entscheidungsfindung.

Seine nächsten Schachzüge brütete gestern Jelzin mit Ministerpräsident Tschernomyrdin im Nationalen Sicherheitsrat aus – übrigens ohne die Machtminister Gratschow, Jerin, Jegorow und Stepaschin. Dieses Gremium schreibt sich selbst die Vollmacht zu, auch den Ausnahmezustand im Lande verhängen zu können.

Während sich die Moskauer politischen Gewalten weiterhin gegenseitig lähmten, setzten ihre Repräsentanten in Grosny die Friedensverhandlungen mit Dschochar Dudajews Gesandtem Imajew und der von Moskau eingesetzten provisorischen tschetschenischen Regierung fort. Während TschetschenInnen vor dem OSZE-Stützpunkt für die Beendigung des Krieges demonstrierten, geht unter RussInnen die Angst um, die Freischärler könnten sich an ihnen im Falle eines Rückzuges der russischen Truppen als „VerräterInnen“ rächen. Von der taz befragte KennerInnen der tschetschenischen Kriegsszene glauben jedoch nicht, daß es zu einem solchen Rückzug überhaupt kommt.

„Die russischen Machthaber sind nicht bereit, ihre Streitkräfte aus Tschetschenien abzuziehen, und deshalb wird bei der ganzen Sache nichts herauskommen“, sagte die Dudajew nahestehende Bürgerrechtlerin Valerija Nowodworskaja. Auf die Frage, ob so etwas wie eine Spaltung innerhalb der russischen Führung wegen der Verhandlungen zu verzeichnen sei, antwortete sie: „Nur insoweit, als die einen einfach so drauflosmorden wollen und die anderen meinen, dabei auch noch betrügen zu müssen.“ Das Motiv für die Teilnahme von Dudajews Leuten an den Verhandlungen grenzt sie ein: „Dudajew ist froh, wenn sein Volk mindestens zwei Tage von den Bombardements ausruhen kann.“

Valentina Melnikowa, Vorstandsmitglied der „Soldatenmütter Rußlands“, begrüßt die Tatsache der Verhandlungen als solche, meint aber: „Eigentlich ist das nur ein Trick. Ich sehe keine großen Chancen, weil die Leute, die dort Rußland vertreten, keine wirklichen Vollmachten haben und weil ihnen auch die Erfahrung im Lösen von Konflikten fehlt. Auch Verhandlungschef Kulikwo, den wir in Friedenszeiten noch für einen mehr oder weniger anständigen General hielten, bewies unter Kriegsbedingungen, daß er seine Leute nicht im Griff hat. Schließlich konnte er bei unserem Friedensmarsch nach Grosny keine Sicherheitsgarantien geben.“

Und auf die Frage nach der Rolle Tschernomyrdins antwortet sie: „Als Premier und Leiter eines Wahlblockes war er gezwungen, jetzt diese Verhandlungen zu wagen. Ich habe aber nicht vergessen, daß er letztes Jahr zu uns sagte: ,Es gibt in Tschetschenien niemanden mit dem wir verhandeln können.‘ Und als wir ihn aufforderten, der Gewalt gegen tschetschenische Frauen und Kinder ein Ende zu setzen, meinte er: ,Das sind Moslems, die verstehen keine andere Sprache.‘“