■ Viermächteverhandlungen zu Tschetschenien
: Positionswechsel

Nach fünf Tagen Friedensverhandlungen in Grosny sieht es überraschenderweise so aus, als habe der Terroranschlag von Budjonnowsk die Türen zu einer Friedensregelung aufgesprengt. Wir müssen uns vor Augen halten, daß es sich hier um Viermächteverhandlungen dreht – zwischen Dudajews Leuten, der von Moskau eingesetzten tschetschenischen Regierung Salambek Hadschijews, den russischen Militärs und der russischen Regierung.

Die gegenwärtige Entwicklung beruht auf einem radikalen Positionswechsel der letzteren. Erklären läßt er sich aus der Popularität, die Ministerpräsident Tschernomyrdin durch seine entschlossene Konfliktschlichtung im Falle Budjonnowsk über Nacht zuflog. Auf dieses alleinseligmachende Narkotikum mag der Premier nicht mehr verzichten. Auch Präsident Jelzin rügt plötzlich die mangelnde Kompromißbereitschaft der russischen Seite (lies Militärs) in Grosny. Trotz zunehmender Repressalien gegen Tschetschenen in Rußland wiederlegt diese politische Wende für den gegebenen Zeitpunkt die Hypothese, die Jelzin in den Krieg schlittern ließ: daß nämlich Nationalismus und Rassismus im russischen Volk stark genug seien, jede Menschenrechtsverletzung zu billigen und die eigenen Söhne als Schlachtopfer darzubringen. Militärisch haben die russischen Truppen die tschetschenischen Freischärler fast besiegt, Frieden haben sie damit nicht gewonnen. Die Nachrichten aus anderen Teilen der Welt, vor allem aus Irland, zeigen der russischen Regierung, daß Gewalt in separatistischen Regionen auf die Dauer nichts ausrichtet.

Derlei Erfahrungen treiben zum ersten Male einen Keil zwischen Präsident Jelzin und die sogenannten „Machtminister“. Verteidigungsminister Gratschow trug bereits während der Budjonnowsker Aktion eine saure Miene zur Schau, weil Tschernomyrdin den Terroristen Schamil Bassajew ungeschoren davonkommen ließ. Bestimmt mit seinem Einverständnis – und mitten im Waffenstillstand – überfielen am Wochenende föderale Truppen einige tschetschenische Dörfer, um Bassajews habhaft zu werden. Wie viele Menschen im Herbst 1993 blindwütigen rechtsnationalistischen Marodeuren zum Opfer fielen, werden wir nie genau erfahren. Die Gründe, denenzufolge die Schuldigen, allen voran General Alexander Ruzkoi, damals amnestiert wurden, hat die russische Öffentlichkeit in ihrer Mehrheit nie verstanden. Der Frieden ist ein so hoher Preis, daß ihm zuliebe in diesem Lande sogar eine Amnestie für Bassajew und Dudajew durchgehen könnte. Barbara Kerneck