■ Stunde Null
: Kriegsgräber und Kräuter im Vorgarten

Fünf Wochen nach Kriegsende sind die Russen noch immer die einzige Besatzungsmacht in der Stadt, und wie man der Berliner Zeitung entnehmen kann, amüsieren sie sich prächtig. Am 6. Juni berichtet das Blatt von einer Kabaretteröffnung an der Gotzkowskybrücke, bei der sich dem Beifall des deutschen Publikums „die in über Kompaniestärke erschienenen Rotarmisten durch ein wahres Applaus-Trommelfeuer“ anschlossen. Diese Zeilen hat vermutlich auch jener alliierte Berlin-Korrespondent gelesen, der wenige Tage später Marschall Shukow anläßlich seiner Ernennung zum Chef der Sowjetischen Militärverwaltung in Deutschland fragt, ob es zwischen der russischen Armee und der deutschen Bevölkerung zu „Verbrüderungen“ kommt. Shukows Antwort: „Die Beziehungen der Roten Armee zu der deutschen Bevölkerung werden von einem strengen Okkupationsregime bestimmt.“ Nicht ganz so klar ist die Erwiderung des Marschalls auf die Frage, ob er wisse, was mit Hitler geschehen ist: „Die Angelegenheit ist sehr geheimnisvoll. [...] Eine identifizierte Leiche Hitlers haben wir nicht gefunden. Etwas Bestimmtes über das Schicksal Hitlers kann ich nicht sagen.“

So können auch die „Umbettungskolonnen“, die jetzt die Stadt, wie am 9. Juni vermeldet wird, nach unvorschriftsmäßig beigesetzten Kriegstoten durchkämmen, nicht ausschließen, bei ihren Grabungen auf die von den Russen offenbar noch immer gesuchte Führerleiche zu stoßen. Ihre eigentliche Aufgabe ist es jedoch, den Gefallenen, die in „Behelfsgräbern“, in „Promenaden, Vorgärten, Straßen, Bahnrainen und Haushöfen“ liegen, „eine letzte Ruhestätte auf den ordentlichen Friedhöfen zu geben“.

Inzwischen, so erfahren wir in der Berliner Zeitung am folgenden Tag, hat auch das Krematorium Baumschulenweg seine Arbeit wiederaufgenommen. „Die Einlieferung der Verstorbenen muß jedoch in Särgen, notfalls auch in Behelfssärgen erfolgen.“

Nicht um Provisorien, sondern um eine radikale Rückbesinnung geht es dagegen Dr. Hennemann in seinem programmatisch „Gewürze aus dem Abendlande“ überschriebenen Artikel in der Berliner Zeitung vom 12. Juni 1945. „Der deutsche Boden“, tröstet Hennemann die vom Morgenland abgeschnittene Berlinerin, „liefert genug heimische Gewürzkräuter, die im Zuge der Verstädterung unseres Volkes für die Hausfrauen heute nicht mehr so bekannt sind. Außer Schnittlauch und Petersilie gedeihen Rosmarin, Salbei und Melisse sehr schön vor dem Fenster der eigenen Wohnung.“

Bereits eine Woche zuvor wurden die Berliner von der Täglichen Rundschau ermuntert, sich als „Kleintierzüchter“ um die Produktion zusätzlicher Fleischrationen zu bemühen. Besonders die Kaninchenhaltung wird empfohlen, denn das Tier „vermehrt sich rasch und ist meist schon nach etwa sechs Monaten schlachtreif“. Wie die Zeitung meldet, hat der Magistrat (Abteilung Ernährung) Anweisungen herausgegeben, den Bestand an Kleinvieh so schnell wie möglich aufzufüllen. „Die Angora, Helle- und Deutsche Großsilber, Wiener blau und weiß, Klein- und Groß-Chinchilla und Deutsche Widder sind die Rassen, die besonders gefördert werden. Rammler-Deckstationen werden mit den genannten Rassen neu eingerichtet. Das Deckgeld ist in der früheren Höhe zu entrichten, und auch die alten Zuchtbücher sollen weitergeführt werden.“

Doch nicht allein die, denn auch alte Parteimitgliedsbücher sind jetzt wieder gefragt. Am 11. Juni 1945 beschließt die Stadtverwaltung, als Reaktion auf Marschall Shukows „Befehl Nr. 2“ über die Zulassung antifaschistischer Organisationen vorläufig nur die Tätigkeit der früheren, schon bekannten großen demokratischen Parteien zu gestatten. André Meier

Fortsetzung folgt