Hoffnung auf ein Ende des Krieges

Seit einer Woche finden in der tschetschenischen Hauptstadt Friedensverhandlungen statt  ■ Aus Grosny Jürgen Gottschlich

Er ist ein Held, er ist der Größte, er hat uns vom russischen Würgegriff befreit und uns die erste Friedenspause verschafft.“ Demonstrativ greift sich die Frau an den Hals, um zu zeigen, wie die russische Armee sich aufführte. Diesen Würgegriff gelockert zu haben ist einer der vielen Verdienste, die die Tschetschenen nahezu ohne Ausnahme Schamil Bassajew, dem Anführer der Geiselnehmer von Budjonnowsk, zugute halten. Er hat es den Russen endlich gezeigt, und das tut dem geschundenen Stolz der Tschetschenen gut. Triumphierend verweist die ältere Dame auf die Absperrungen wenige Meter weiter: „Jetzt müssen sie verhandeln.“

Hinter den Absperrungen befindet sich das Hauptquartier der OSZE in Grosny. Das unscheinbare Reihenhaus hinter einem hellblau gestrichenen Eisentor bildet im Moment den Mittelpunkt des Interesses. Vor dem Tor stehen russische Panzer und Geländewagen der tschetschenischen Rebellen einträchtig nebeneinander. Die Leute von Präsident Dudajew plaudern ungezwungen mit den russischen Soldaten. Auch hinter den Mauern des OSZE-Sitzes soll die Atmosphäre im Laufe der Gespräche immer entspannter geworden sein. Ein Mitglied des fünfköpfigen Vermittler-Teams, das die Verhandlungen moderiert, macht in einer Pause auf Optimismus: „Die Gespräche werden bestimmt weitergehen, selbst eine politische Lösung ist nicht mehr völlig ausgeschlossen.“ Wie diese jedoch aussehen könnte, zeichnet sich auch rund eine Woche nach Verhandlungsbeginn nicht ab.

Daß überhaupt verhandelt wird, betrachten die Menschen in Tschetschenien als unmittelbares Ergebnis der Krankenhausbesetzung von Budjonnowsk. Auf kritisches Nachfragen gibt es immer wieder dieselbe Antwort. Die Welt hatte uns vergessen, wir mußten ein Zeichen setzen. Und was, so fragen viele, sind die Schmerzen der betroffenen Russen, die fünf Tage als Geiseln festgehalten wurden, gegen die Leiden der Tschetschenen, die von Rußland seit fünf Monaten mit einem furchtbaren Krieg überzogen werden? Außer den Vertretern der von Moskau in Grosny eingesetzten Marionettenregierung ist niemand bereit, sich von Bassajew zu distanzieren. Im Gegenteil, als der Anführer der Rebellen mit den restlichen Geiseln und seinen Leuten aus Budjonnowsk abfuhr, standen in sämtlichen Städten der Nachbarrepublik Inguschien, die der Konvoi auf dem kürzesten Weg nach Tschetschenien eigentlich hätte passieren müssen, Tausende vergeblich an den Straßen, um den Helden zu feiern.

Tatsächlich hoffen viele Einwohner Grosnys, daß der provisorische Waffenstillstand, der das erste greifbare Ergebnis der von den Geiselnehmern erzwungenen Verhandlungen darstellt, der Anfang vom Ende des Krieges ist. In Grosny gibt es dafür auch hoffnungsvolle Anzeichen. Das Leben ist in die zerstörte Stadt zurückgekehrt. Die Märkte sind wieder gefüllt, und rund um das völlig ausgebombte Zentrum bilden sich ansehnliche Autostaus. Die Kontrollpunkte in und um Grosny sind erheblich reduziert worden, und in die ehemals 450.000 Einwohner zählende Stadt konnten inzwischen rund 300.000 Flüchtlinge zurückkehren.

Es wären noch mehr, wenn es genügend Wohnraum gäbe, meint Mohammed Dagirov, der Sprecher des von Moskau eingesetzten Regierungschefs Hadschijew. Nach seinen Angaben ist die offizielle Regierung eifrig bemüht, diesen Mangel zu beheben. Es gibt bereits Verträge mit türkischen und tschechischen Baukonzernen, die Grosny in neuem Glanz auferstehen lassen sollen. Erst einmal mit Geld aus Moskau, später dann vielleicht aus den Einkünften aus dem Ölverkauf, über deren zukünftige Aufteilung bei den russisch-tschetschenischen Gesprächen bereits verhandelt wird.

Noch sieht das Zentrum Grosnys allerdings aus wie die ausgebombten Städte des Zweiten Weltkriegs: Ruine reiht sich an Ruine, geschwärzte Häuserskelette, die nach und nach vollends gesprengt werden. Vor allem rund um den heftig umkämpften ehemaligen Präsidentenpalast sind so bereits fußballfeldgroße Freiflächen entstanden. Am Rande der Innenstadt beginnt sich das Leben dagegen bereits zu normalisieren. Die meisten Häuser, die nur teilweise zerstört wurden, sind wieder bewohnt.

Auch der unmittelbare russische Repressionsdruck hat in Grosny nachgelassen. Vor den Absperrungen am Ort der Verhandlungen versammeln sich den ganzen Tag über Hunderte von Tschetschenen, hauptsächlich Frauen, die Dudajew-Poster hochhalten und Transparente gegen den Völkermord im Kaukasus entrollen. Und sobald ein ausländischer Journalist sie nach ihrer Meinung zu den Friedensgesprächen fragt, bildet sich eine Traube von Menschen. Endlich, so scheint es, haben sie jemanden gefunden, dem sie vom Leiden der vergangenen Monate erzählen können. Angestaute Wut macht sich hier Luft. „Ich sehe keinen Unterschied mehr zwischen dem, was die deutschen Faschisten gemacht haben, und dem, was die Russen jetzt hier anstellen. Sie wollen uns alle umbringen“, ereifert sich ein weißhaariger Veteran. Alle Umstehenden nicken eifrig, jeder weiß von einer anderen Schreckenstat russischer Truppen irgendwo in Tschetschenien.

Die derart Beschimpften stehen derweil wenige Meter entfernt und schauen gelangweilt zu. Rein äußerlich sehen die russischen Truppen in Grosny aus, als wollten sie die Gestalten aus amerikanischen Vietnam-Filmen kopieren. Angetan mit eigenwillig individualisierten Uniformen, teilweise ergänzt durch schwarze Tücher vor dem Gesicht, liegen sie lässig auf ihren Panzerwagen oder rasen in Rambo-Manier mit halsbrecherischem Tempo durch die Stadt. Angst haben sie zumindest tagsüber nicht mehr, auch einzeln schlendern sie über den Markt, offenbar ohne befürchten zu müssen, ein Messer in den Rücken zu bekommen.

Das gilt für einige Gebiete im Süden Tschetscheniens nach wie vor nicht. Trotz anderslautender Meldungen des russischen Militärs sind mehrere Orte in den Bergen immer noch nicht erobert, gibt es etliche Regionen, die nachts von der Guerilla kontrolliert werden. Einer der nach wie vor umkämpften Orte ist Bamut im Südwesten nahe der Grenze zu Inguschien. Hier ist der Waffenstillstand nicht das Papier wert, auf dem er unterschrieben wurde. In der Nacht von Samstag auf Sonntag waren bis in 30 Kilometer Entfernung die Einschläge der russischen Artillerie zu hören. Am Sonntag morgen rauchten noch die Trümmer der wenige Stunden zuvor zerbombten Häuser, ein Stall steht in Flammen. Verbindungsleute der tschetschenischen Guerilla waren mit drei Journalisten nach Südwesttschetschenien gefahren, um vor Ort den Bruch des Waffenstillstands zu beweisen.

Bamut gehört zu den Legenden des Krieges. Die Kleinstadt wird seit Monaten heftig umkämpft, mehrmals hatte die russische Armee die Eroberung bekanntgegeben, und jedesmal war es ein Bluff. Zwar verlaufen die russischen Linien direkt am Ortsrand, doch die Häuser, deren Einwohner schon lange geflohen sind, werden nach wie vor von Dudajew-Leuten kontrolliert. Im Keller eines zerstörten Gebäudes gibt der Kommandant des Ortes eine provisorische Pressekonferenz. Trotz der nächtlichen Bombardements wirken die tschetschenischen Kämpfer gelassen und zuversichtlich. „Wir haben sowieso nicht damit gerechnet, daß die Russen sich an ihre Versprechungen halten. Das haben sie bislang nie getan.“ Der Kommandant, der wie so viele andere Rebellen ein grünes Stirnband trägt, ist dennoch davon überzeugt, daß es bald Frieden geben wird. Weder die Tschetschenen noch die Russen hätten diesen Krieg gewollt. „Nur ein paar Banditen in Moskau.“ Sein Hauptproblem ist die Ungläubigkeit der Welt. „Niemand hält es für möglich, daß wir die Russen besiegen werden. Denn ansonsten gäbe es mehr internationale Unterstützung.“ Weil dies aber nicht der Fall sei, würde jetzt eben verhandelt.

Die tschetschenischen Hardliner scheinen mit den Gesprächen von Grosny allerdings nur ein Ziel zu verfolgen. Sie wollen eine Waffenstillstandslinie vereinbaren, hinter die die Russen sich zurückziehen sollen. Eine politische Lösung, über die in der Hauptstadt nun immerhin die beiden wichtigsten Vertreter Dudajews, der frühere Justizminister Imajew und General Maschadow, verhandeln, ist für sie nur in einer Form denkbar: sie bestehen auf der Unabhängigkeit Tschetscheniens.

Allerdings scheint auch die andere Seite bei der Frage der zukünftigen Verfassung Tschetscheniens wenig kompromißbereit zu sein. Die Republik müsse Teil der Russischen Föderation bleiben, so die einhellige Meinung. Regierungschef Hadschijew hofft auf eine Stabilisierung der Lage durch Wahlen. Im November sollen die Tschetschenen ein Parlament wählen dürfen, Ziel ist die Bildung einer demokratisch legitimierten Regierung. Zur Wahl stellen dürfen sich freilich nur diejenigen, die „nicht gesetzlich verfolgt werden“. Für den Volkshelden Schamil Bassajew gilt dies aber ebensowenig wie für Dudajew selbst. Gegen sie liegt in Moskau ein Haftbefehl vor.