Auch ostdeutsche Sicht berücksichtigen

■ Berliner Jura-Professorin mahnt Trendwende in der Rechtsprechung an

Rosemarie Will, kurz vor der Wende an die Ostberliner Humboldt-Uni berufen, ist heute Bürgerrechtlerin im Vorstand der Humanistischen Union (HU). Sie ist eine der kenntnisreichsten Kritikerinnen der juristischen DDR-Bewältigung.

taz: Von 1992 bis 1994 waren Sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Bundesverfassungsgericht (BVerfG). Stimmt der Eindruck, daß die ostdeutsche Sicht in der Rechtsprechung inzwischen stärker berücksichtigt wird?

Rosemarie Will: Es gibt Korrekturen, aber noch keine Trendwende.

Letzte Woche hat das Bundessozialgericht entschieden, daß die pauschale Kürzung bestimmter DDR-Renten, das sogenannte „Rentenstrafrecht“, verfassungswidrig sei. Darüber muß nun das BVerfG entscheiden.

Wenn der Gesetzgeber nicht vorher reagiert, was ich besser fände, wird das BVerfG diese Regelungen ebenso wie das Bundessozialgericht beurteilen müssen.

Im Februar hat das BVerfG bereits entschieden, daß es für die Eignung zum öffentlichen Dienst nicht allein auf die Zeit vor der Vereinigung ankommen könne. Die hierauf gestützte Kündigung eines ehemaligen SED-Funktionärs war deshalb aufgehoben worden.

Hier muß man abwarten, wie dieser vernünftige Beschluß von den Arbeitsgerichten aufgenommen wird. Bisher entscheiden selbst die einzelnen Senate des Bundesarbeitsgerichts noch uneinheitlich.

Und dann gab es vor wenigen Wochen noch das Spionage-Urteil, das weitgehende Straffreiheit für DDR-SpionInnen anordnete.

Daraus können aber keine Rückschlüsse auf andere Bereiche der strafrechtlichen Aufarbeitung gezogen werden.

Für die Mauerschützen hat das Spionage-Urteil also keinerlei Bedeutung?

Nein, dort gelten bisher die Urteile des Bundesgerichtshofes (BGH), die eine Bestrafung von Mauerschützen erlauben, auch wenn die Tat zu DDR-Zeiten gerechtfertigt war. Auch diese zwiespältige BGH-Rechtsprechung wird vom BVerfG noch im Hinblick auf das grundgesetzliche Rückwirkungsverbot von Strafgesetzen überprüft.

Warum bezeichnen Sie die Mauerschützen-Urteile des BGH als „zwiespältig“?

Im Ergebnis bin ich nicht einverstanden; ich sehe aber in der Klarstellung des BGH einen Fortschritt, daß man die Kriterien der NS-Aufarbeitung nicht auf die DDR anwenden kann.

Andere Delikte, die in der DDR aus politischen Gründen nicht verfolgt wurden, waren aber auch nach DDR-Recht eindeutig strafbar, etwa Wahlfälschungen. Treten Sie hier für eine Amnestie ein?

Nein, aber ich hoffe und wünsche mir, daß der Bundestag die Verjährungsfristen, die ja auch dem Rechtsfrieden dienen, nicht erneut verlängern wird. Leichtere Straftaten würden dann Ende 1995, mittlere Ende 1997 verjähren.

Als Vorstandsmitglied der Humanistischen Union geben Sie sich viel Mühe, westdeutschen BürgerrechtlerInnen Ihre ostdeutsche Perspektive nahezubringen. Warum?

Die „herrschende Meinung“ wird nach wie vor im Westen gemacht.

Gibt es denn überhaupt einen einheitlichen ostdeutschen Standpunkt?

Natürlich nicht, aber es gibt wichtige Gemeinsamkeiten. Im Osten spielt die juristische Aufarbeitung eine viel geringere Rolle. Dies gilt auch für die Opfer, die vor allem wissen wollen, wer sie warum bespitzelt oder angeschwärzt hat. Eine persönliche Auseinandersetzung ist eben nur dann möglich, wenn sie nicht unter dem Druck bevorstehender Gerichtsverfahren stattfindet. Das verstehen viele derjenigen im Westen, die ständig von den Opfern reden, leider immer noch nicht. Interview: Christian Rath