Klimagipfel der Befindlichkeiten

■ Rudolf Scharping und Wolfgang Thierse diskutierten in Staecks „Ideenwerkstatt“ deutsch-deutsche Vergangenheit

Potsdam (taz) – Am Anfang des Abends stand der Wille, in der SPD einen Weg zu suchen für die Aufarbeitung der ost-westlich- deutschen Vergangenheit. Doch konkret darüber zu reden, Konzepte gar für eine Debatte zu finden, fiel den GenossInnen unendlich schwer, die am Montag abend der Einladung von Klaus Staeck gefolgt waren, dem Politkünstler und Langzeitwahlhelfer der Partei. So geriet die fünfte Folge seiner „Ideenwerkstatt“ in Potsdam eher zu einem Klimagipfel der Befindlichkeiten.

Derzeit mag mancher Genosse die SPD nur als eine kalte Heimat empfinden. Spätestens seit letzter Woche weiß Vizechef Wolfgang Thierse, wie frostig Genossen sein können. Für die neue Enquetekommission zur Aufarbeitung der SED-Vergangenheit hatte er als Arbeitsaufgabe formuliert: „Im Zuge des Transformationsprozesses sind neue Probleme entstanden, die das politische und gesellschaftliche Verhalten der Menschen in Ostdeutschland heute ebenso prägen wie die Auswirkungen der SED-Herrschaft.“ Doch die Fraktionsmehrheit ließ ihn im Regen stehen. Seine Sätze rückten die SPD in die Nähe der PDS. Auch sein Vorschlag, die Kommission möge exemplarisch Auskunft darüber geben, „was die Menschen in der DDR geleistet haben“, fiel bei der Abstimmung durch.

Thierse wehrt sich gegen den Vorwurf der PDS-Nähe: Er will Begriffe, die die PDS für sich okkupiert hat, zurückerobern, etwa den „demokratischen Sozialismus“. Das gehe jedoch nur, wenn man ehemalige SEDler nach ihren damaligen politischen Ideen befrage: „Man muß daran erinnern, daß es auch gute Gründe gegeben hat, Kommunist gewesen zu sein.“ An diesem Abend konterte ihm Gesine Schwan, Politologin an der FU Berlin. Im Prinzip habe er ja recht, aber da begebe er sich „auf eine ganz schwierige Reise“. Denn: „Wir müssen auch sagen, welche Motive nicht edel waren.“

Ein Begriff setzte sich wie eine Fliege auf jeden Diskussionsstrang des Abends: Denunziation. Als während der DDR-Zeit systemnah könne „nach Belieben denunziert werden, wessen Staatsfeindschaft nicht aktenkundig ist“, meinte Bürgerrechtler und Ost- SPDler Hans Misselwitz. Das rief in der Runde vor allem den vehementen Protest der Nichtgenossin Ulrike Poppe hervor, die den Begriff „Denunzieren“ nur auf die Stasi angewandt haben will. Friedrich Schorlemmer aus Wittenberg dagegen stellte sich auf die Seite von Misselwitz: Seit 1991 habe sich in der „Republik ein denunziatorisches Gesamtklima entwickelt“, jeder stelle mittlerweile „jeden an den Pranger“.

Bevor sich die Diskussion in definitorische Weiten verflüchtigen konnte, erinnerte Rudolf Scharping seine GenossInnen an die Niederungen des politischen Alltags und an die Solidarität mit den Bürgerrechtlern. Auch als die Anwesenden (wieder einmal) zu diskutieren begannen, ob der Begriff „demokratischer Sozialismus“ für die Sozialdemokratie noch zu retten sei, schlüpfte Scharping in die Rolle des Beschwichtigers: Die Begriffe seien ihm letztlich „schnurzpiepegal, wenn ich weiß, was jemand damit meint und verbindet“. Versöhnung brauche das Land. Als Vorbild dafür bietet er die Familie Braunmühl an. 1986, als ein RAF-Kommando den Diplomaten Gerold von Braunmühl ermordet hatte, suchte sie über einen offenen Brief in der taz den Dialog mit der RAF – lange bevor Minister und Parlamentarier den Kontakt zu den Inhaftierten fanden.

Doch niemand ging darauf ein. „Vor welchen Fragen haben die Westdeutschen Angst?“ fragte jemand noch schnell aus dem Publikum, bevor Oskar Negt auch schon zu resümieren begann: „Wenn Sprache und Symbole nicht vereinbar sind, gibt es keine gemeinsame Zukunft. Sie läßt sich nur kommunikativ entwickeln.“

Die GenossInnen haben sich eine „6. Ideenwerkstatt“ im Oktober versprochen. Annette Rogalla