Les enfants du Potsdam

■ Schlechtgelauntes Dienstleistungsfeuilleton zum Filmfest

Potsdam ist einfach Scheiße. Potsdam hat nur eine miese Vergangenheit, keine Gegenwart und erst recht keine Zukunft. Der Siemens-Statthalter in Berlin verspricht: Erst wenn die Gegend um Potsdam so schön entwickelt ist wie die um den Starnberger See, wo die Siemens-Erben leben, könne daran gedacht werden, den Firmensitz wieder nach Berlin zu verlegen. Das ist eine handfeste Drohung, die Potsdamer SPD-Politik bemüht sich seitdem eifrig, das Terrain dergestalt vorzubereiten.

Auf dem Pots1000-Fest steckte man die Arbeitslosen in preußische Uniformen – als „Lange Kerls“, bei der Eröffnung einer Passage der Quadriga GmbH ließ man sie jetzt in Ritterrüstungen antreten. Für eine neue Potsdam-Erkundung „Preußischer Abend“ wurde gerade ein „Zillebus“ angeschafft, und auf dem Theaterschiff spielt man ein „Romantisches Ritter-Rührstück“. Das Bier heißt „Rex“, und das extra für Potsdam designte Poller-Programm nennt sich „Fritz“. Ist das nicht alles fürchterlich? Es könnte komisch Camp und schön schwul sein, allein die Homosexualität bleibt an der Berliner Siegessäule und Potsdam so stockheterosexuell wie sein Bürgermeister. Überall sprießen bunte Passagen und Gewerbe-Karrees aus dem Boden, mit Niedervoltlampen bestückt und in die ORB- Horrorfarben der Saison – Pink (Minol), Babyrosa (Telekom) und Türkis (Sorat) – getunkt.

Potsdam-Babelsberg wiederum, einst eine proletarische Enklave im Hohenzollern-Muff, ist an den Wochenenden tot und ausgestorben. Einzig am Anleger der Weißen Flotte, die demnächst ebenfalls Konkurs anmelden wird, und in den albern vergoldeten Anlagen der Hohenzollern-Immobilien schlendern lustlos ein paar Leute umher – und denken nicht daran, den „Europäischen Salon für Liebhaber des jungen Films“ anzusteuern: das 700.000 Mark teure Potsdamer Filmfestival. Es findet im Kulturhaus „Altes Rathaus“ und schräg gegenüber im Filmmuseum des „Marstalls“ statt und wird zumeist von Westberlinern besucht, weswegen es sinnvollerweise einen Shuttle von hier nach dort und zurück gibt.

Grappa gibt es leider keinen

Auch das Filmmuseum wurde, zumindest im Erdgeschoß, entDDRisiert, das heißt mit modernstem Equipment und Design aufgemotzt, dazu lebensgroße Ufa- Stars sowie – überlebensgroß – Anita Ekberg. Ähnliche Pappkameraden stehen im Kulturhaus, das der erste Nach-Wende-Westdirektor Hilscher von Osram niedervoltilluminieren ließ und dann mit aus den ganzen Hochadels- Museumssalons drumherum abgeschleppten Edel-Polstermöbeln vollstellte. Der hervorragende Kenner antiker Möbel, Hilscher, ist mittlerweile an Krebs gestorben. Mit seinen Raubzügen wollte er – in den Worten von Stolpe, die dieser bei jeder spekulativen Grundsteinlegung im Großraum Potsdam-Babelsberg äußert – „aus einer Stätte des Grauens einen Ort der Hoffnung schaffen“. Noch jetzt kann man an der Außenwand des Kulturhauses das entsetzte Ost- Graffito entziffern: „Hilscher macht alles kaputt!“

Weil das „Festival-Team“, das im übrigen streng hierarchisch-autoritär organisiert ist, das kulturhauseigene Kellerrestaurant nicht gut genug fand, wurde für die Dauer des Salons extra ein Musikcafé-Zelt auf den Vorplatz zwischen der Kirche, wo einige Penner unterm Vordach wohnen, und dem grauen Container-Konstrukt, in dem das Hans-Otto-Theater ensembelt, aufgestellt: Im Zelt regnet es durch, und es gibt keinen Grappa im Angebot – zugegeben, ich bin schlecht gelaunt, wie jedesmal, wenn ich in Potsdam bin!

Aber gleich der erste Film euphorisiert mich geradezu: „Les Hommes du Port“ – ein viel zu kurzer (64-Minuten-) Dokumentarfilm von Alain Tanner über die seit über 100 Jahren anarchosyndikalistisch organisierten Hafenarbeiter von Genua. Da machte es überhaupt nichts, wenn an der Ankündigung im Festival-Faltblatt nichts stimmt – und von „Matrosen“ und „atemberaubend schönen Bildern von einem Dokumentarliebhaber“ gefaselt wird: Tanner ist eher Spielfilm-Enthusiast, und es geht rein um Landratten!

Aber ich war mal kurzzeitig Matrose und, wichtiger noch: Wir wohnten 15 Jahre in Bremen am Fluß und gingen an jedem Wochenende in den Hafen. Von daher weiß ich, was ein Lukenfiez ist, nämlich der wichtigste Mann beim Be- und Entladen des Schiffes: Er steht an der Ladeluke und dirigiert mit seinen Händen bzw. Fingern den Kran, von dem aus man nicht in die Luke schauen kann. Neben dem Lukenfiez stehen die Registrateure der internationalen ControllCo, jeweils einer für den Käufer und den Verkäufer. Bevor ich wegen der Bundeswehr als Matrose, als Meßpiedel genauer gesagt, anheuerte, arbeitete ich bei einer Schiffsmaklerei, die mit ihren Konnossementen, die ich dann abzustempeln hatte, bisweilen ebenfalls noch an der Luke bzw. im Schuppen vertreten ist. In den fünfziger Jahren arbeitete Alain Tanner in einer Genueser Schiffsmaklerei. Damals lernte er den dortigen Hafen kennen, nicht jedoch die wunderbare Hafenarbeiter-Gewerkschaft und die auf ihre alten Tage immer noch so gut aussehenden Hafenarbeiter. Das hat er nun gründlich nachgeholt, und auf das Ergebnis können die Genueser Hommes du Port wirklich stolz sein, insbesondere die dortigen Lukenfieze.

Was für Persönlichkeiten!

Meine Eltern waren in jenen Tagen vom Existentialismus enthusiasmierte Künstler, wir wohnten jedoch in einer reinen Hafenarbeiterstraße, und ich beneidete die Kinder dort sehr: Sie lebten in sauberen, aufgeräumten Wohnungen, und jeden Tag gab es pünktlich warmes Essen – ihr Leben war geregelt und wunderbar.

Vielleicht habe ich mir deswegen eine allzu romantische Vorstellung von Hafenarbeitern bewahrt. Aber diese Genueser, die Tanner ihre Geschichten erzählten oder sogar sangen, übertrafen meine Hafenarbeiteridylle noch bei weitem: Was für Persönlichkeiten! Ihre Organisation überstand den Faschismus, die Arbeitshetze und Arbeitslosigkeit in den Nachkriegsjahren, die Hafencontainerisierung der Sechziger, Siebziger, und nun stellen sie sich der nächsten Epoche: der Privatisierung des Hafens. Nachdem die Stadt sich für eine „American Solution“ entschieden – und eine Stadtautobahn direkt am Hafen entlang gebaut hatte, wodurch die Altstadt von den Kais abgetrennt wurde, fingen die Hafenarbeiter – es gab schon immer Universitätsprofessoren und Mondscheinbauern unter ihnen – auch noch an, sich ökologisch in die Stadtplanung einzumischen: „Unser Wort hat Gewicht in Genua!“

Radschuhe aus Chabarowsk

Erst auf dem Nachhauseweg vor der Brücke der Einheit entdeckte ich noch etwas Nettes: lauter junge Menschen auf russischen Radschuhen. Auf mein Befragen gaben diese – von der einheimischen Presse (die in der Hand von Frankfurter FAZ und Düsseldorfer Handelsblatt ist) oft und gern „Potsdam Kids“ genannten – blonden Dummköpfe jedoch an: Die Radschuhe, das sei jetzt was total Neues und ganz Amerikanisches und heiße mitnichten (höhnisches Gelächter!) Radschuhe, sondern „Rollerblades“! An Ort und Stelle konnte ich ihnen sofort das Gegenteil beweisen: mit einer Farbfotografie aus dem Jahre 1966, aufgenommen auf dem Marktplatz der sibirischen Stadt Chabarowsk am Amur. Da waren sie platt! Man sollte diese Aufnahme auch den taz-Lesern nicht vorenthalten ... Helmut Höge