Die Sucher der verlorenen Deckel

Neue Serie: Berliner Öko-Bilanz / Teil eins: Der Müll / Das Duale System schafft die Sammelquoten nicht / Von Hand wird das stinkende Gemisch aus Plastik, Essensresten und Chemikalien sortiert  ■ Von Hannes Koch

Im Bunker schwirren Schwärme von Fliegen. Je heißer die Sonne scheint, desto lustiger tummelt sich das Geschmeiß um die bunten Berge. Besonders in der Mitte ist das Gesumme groß. Dort kippen täglich Dutzende von Müllwagen den Inhalt der gelben Tonnen ab. Unser aller Verpackungsabfall schichtet sich stündlich aufs neue zu meterhohen, farbenfrohen Haufen: Plastiktaschen, Pralinenschachteln, halbvolle Büchsen mit Erbsensuppe, vorbildlich gereinigte und schimmlige Joghurtbecher, Erdnußdosen.

Links nebenan liegt ein weitaus reinlicherer Müllberg. Im Gegensatz zu den gelben Tonnen und Containern aus den Massensiedlungen der Innenstadt werden die Verpackungen der Einfamilienhausgebiete in den gelben Säcken angeliefert, die, fest verschlossen, weniger stinken. Deshalb ist auch die Fliegenpopulation bei den Einfamilienhaussäcken geringer. Wer von den Beschäftigten der Abfallwirtschaftsunion Berlin (AWU) im Bunker arbeitet, hat noch Glück gehabt. Im Vergleich zu der Halle mit den Sortierbändern halten sich üble Düfte und Hitze in Grenzen. Der sogenannte „Bunker“ ist ein an drei Seiten mit Betonteilen der DDR-Mauer umgebener, nach oben offener Platz. Wo früher die Mauer ihren charakteristischen runden Wulst gegen die Republikflüchtlinge trug, hindern jetzt alte Tarnnetze der Nationalen Volksarmee im Wind flatternde Plastiktüten am Entkommen.

Schaufel auf Schaufel befördert ein Radlader den Müll zur Vorsortierung auf ein Förderband unter freiem Himmel. Alexander Fischer, Technikleiter der AWU, korrigiert: aus „Müll“ wird durch Erfassen und Sortieren wieder „Wertstoff“. Schließlich habe das Duale System, das hier am Hultschiner Damm in Hellersdorf in Gestalt der AWU und anderer Firmen tätig ist, die Aufgabe, gebrauchte Verkaufsverpackungen zu recyceln.

Zum Leidwesen des Unternehmens schaffen die Lkws jedoch nicht nur Verpackungen, sondern auch ganz andere Sachen herbei. Gerade zieht ein Arbeiter einen kurzen Stahlträger unter den Joghurtbechern auf dem Förderband hervor. Auch Sofateile und Bügeleisen finden sich bisweilen. Viele VerbraucherInnen machen, absichtlich oder unbewußt, keinen Unterschied zwischen den gelben Tonnen des Dualen Systems und den grauen Behältern der Stadtreinigung. Bis zu 40 Prozent des angelieferten Materials habe eigentlich nichts auf seinem Hof verloren, so AWU-Techniker Fischer. Manche der für Verpackungen vorgesehenen gelben Tonnen sind halbvoll mit Abfall, der nicht hineingehört. Unter anderem dieser Umstand beschert dem Dualen System in Berlin ein existenzgefährdendes Problem, wie Umweltsenator Hassemer unlängst feststellte. 1995 wird es schwierig, wenn nicht gar unmöglich, die in der Verpackungsverordnung vorgeschriebene Menge an Kunststoff, Weißblech und Aluminium einzusammeln (siehe unterer Artikel).

Nach der Vorsortierung im Freien fährt der Müll per Transportband in eine riesige, um ihre Längsachse rotierende Trommel, die einem Betonmischer ähnelt. Durch unterschiedlich große Löcher in den Wänden fallen Becher, Dosen und andere Verpackungen hindurch. Magneten entlocken dem ausgesonderten Gemisch alle Metalle.

Jetzt sind die SortierarbeiterInnen an der Reihe. Vier Frauen und Männer stehen an jeder Seite der drei Förderbänder, die ihre Abfallfracht langsam durch eine 15 Meter lange, niedrige Halle schieben. Acht Stunden täglich beugen sich die ArbeiterInnen über das Band und greifen in den Dreck. Ihre Hände werden von Handschuhen geschützt, ihre Nasen von nichts. Von links rutscht unaufhaltsam das Gemenge aus Müll und Wertstoffen ins Blickfeld. Plastikfolie in diesen Container. Alufolie in jenen Behälter. Milchtüten dort hinein. Eine kleine braune Flasche mit undefinierbarer Flüssigkeit? Verdünner, Salzsäure? Die kommt zum Sondermüll. Halbe Brotlaibe, verwesende Koteletts und jede Menge „Sortierreste“ lassen die ArbeiterInnen durch. Undefinierbare Haufen, „aus denen die Maden herauskriechen“, wie ein Arbeiter sagt, werden nicht angerührt. So überstehen einige Wertstoffe die Aussonderung unbeschadet, vor allem viel Kleinkram, bei dem das Sortieren zu lange dauern würde. Zu den Sortierresten gehören aber auch Materialien, die sich später technisch nicht trennen lassen: Chipstüten aus Kunststoff zum Beispiel, die mit Aluminium bedampft wurden.

50 Pfennig Dosenpfand

Aluminium ist denn auch der Stoff, bei dem 1994 die AWU und die drei anderen für den Berliner Müll zuständigen Sortieranlagen ihre durch die Verpackungsverordnung festgelegte Sortierquote nicht erfüllen konnten. Statt 60 Prozent wurden nur rund 47 Prozent der eingesammelten Menge wiederverwertet. Die Verantwortung dafür trägt die Industrie, die etwa Getränkedosen aus Weißblech mit einem Deckel aus Aluminium kombiniert. Die Magnete der Sortieranlage werfen die Dosen auf den Blechhaufen. Später wird alles zusammen eingeschmolzen, wodurch das Alu verloren geht. Der Umweltausschuß des Abgeordnetenhauses fordert deshalb, ein Pfand von 50 Pfennig beim Verkauf jeder Getränkedose einzuziehen, die Aluminium enthält. Dann müßte nicht mehr das Duale System, sondern die Dosenindustrie ihre Behälter selbst zurücknehmen, was einen Druck zugunsten von Mehrwegverpackungen erzeugen könnte.

Draußen, hinter der Bunkermauer, türmt sich schließlich das Ergebnis der Sammel- und Sortierbemühungen. In Quader von 1,20 Meter Kantenlänge eingepreßt und mit Draht umwickelt warten Kunststoffolien auf ihre Fahrt zu den Verwerterbetrieben. Daneben häufen sich Ballen aus Weißblechdosen, aus Tetrapaks, und schließlich auch die Gebinde mit dem Restmüll. Plastiktüten, Schaumstoff, Styropor, aber auch Joghurtbecher und Milchbehälter schauen daraus hervor. Immerhin knapp 21.000 Tonnen, zehn Prozent der in Berlin gesammelten Wertstoffe, wandern als Sortierreste auf die Deponien nach Brandenburg. So wird Wertstoff wieder zu Müll.

Nächste Folge in einer Woche: Giftige Altlasten im Boden