Die Folgen der eigenen Position bedenken!

Eine Antwort auf Kerstin Müllers und Jürgen Trittins „Bosnien“-Positionspapier  ■ Von Ernst Köhler und Michael Moller

In Kerstin Müllers und Jürgen Trittins Positionspapier (taz vom 16. 6.) wird davon abgesehen, das friedenspolitische Dilemma in Bosnien auch nur zu berühren. Dieses Dilemma lautet: mangels frühzeitiger Konfliktwahrnehmung und -bewältigung reduziert sich Friedenspolitik auf die traurige Wahl zwischen Gewaltalternativen, nämlich, wie geschehen, Völkermord und Vertreibung gewähren zu lassen, oder sie, unter Anwendung militärischer Gewalt – und unter möglicherweise hohen Opfern – zu stoppen. Die AutorInnen des Papiers lösen das Dilemma auf elegante Art und Weise: Sie übersehen einfach die seit Jahren durch die internationale Staatengemeinschaft akzeptierte militärische Gewalt in Gestalt von Völkermord und Vertreibung und verweisen nur auf die andere Hälfte des Problems, nämlich das mögliche sprunghafte Wachsen der Zahl der Opfer bei einer militärischen Intervention. Souverän paßt sich das Positionspapier der weit verbreiteten Sprachregelung an, das jahrelange Zuschauen bei Vertreibung und Völkermord als „neutral“ zu bezeichnen, und suggeriert, daß aus dieser Neutralität heraus ein Verhandeln mit der serbischen Führung möglich und erfolgreich hätte sein können. Nicht nur wird verschwiegen, daß jahrelang vergeblich verhandelt wurde. Wir erfahren auch nicht, wie das Ergebnis solcher Verhandlungen hätte aussehen sollen.

Von Müller und Trittin muß verlangt werden, daß sie die Kosten der eigenen Position, das jahrelange Gewährenlassen von Völkermord, nicht verschweigen. Gibt es für die AutorInnen überhaupt irgendeine Situation, in der einem kriegswilligen und kriegführenden (!) Aggressor mit militärischer Gewalt begegnet werden muß? Es ist zu befürchten, daß sie, gefangen in überholten und in diesem konkreten Zusammenhang völlig inadäquaten Denkfiguren des alten Ost-West-Konfliktes, derzufolge „Sicherheit in Europa nur um den Preis des Selbstmordes militärisch zu erreichen sei“, gerade diese Frage mit Nein beantworten.

Ein grünes Positionspapier muß genau in diesem Punkt die schmerzhafte Grenze für eine Intervention wenigstens andeuten können oder sich offen dazu bekennen, daß eine solche Grenze für Bündnis 90/Die Grünen nicht existiert, daß man lieber Völkermord akzeptiert, als einer Intervention von auch durch Großmachtinteressen geleiteten Interventionisten zuzustimmen. In der Tat haben Großmächte auch Großmachtmotive. Auch die Alliierten im Zweiten Weltkrieg hatten Großmachtinteressen; dennoch feiern wir heute alle zu Recht den 50. Jahrestag der Befreiung vom Naziterror und der Beendigung des von den Nazis initiierten und geführten Aggressions- und Vernichtungskriegs.

„Sanitäter in Kambodscha, Pioniere in Somalia und so weiter“ – ist das wirklich alles, was Müller und Trittin in Sachen deutsche Großmachtpolitik vorzuweisen haben? An die Stelle der Beschwörung imaginärer Großmachtinteressen und der demagogischen Abstempelung Roman Herzogs zum potentiellen Kriegsvorbereiter sollte einmal eine halbwegs plausible Analyse von Zielen und Inhalten solcher Interessen rücken. Aber hier sieht es, ohne Öl- und blanke Machtinteressen während des Golfkrieges sowie Gedanken des Verteidigungsministeriums über den freien Zugang zu den Rohstoffmärkten übersehen zu wollen, merkwürdig dürftig aus.

Mit den beiden letzten Punkten eng verbunden ist die von Müller und Trittin angedeutete Frage nach dem Sinn einer Intervention ohne Berücksichtigung der sozialen, ökonomischen und politischen Ursachen des Krieges und der damit angedeuteten „Gewaltspirale“. Es ist trivial, daß im Moment der Intervention die Ursachen eines Krieges nicht beseitigt werden. Dies ist vermutlich immer erst nach Kriegsende möglich, wobei die Lösung der Kriegsursachen eben leider nur noch für die Überlebenden sinnvoll ist ...!

Wir bezweifeln, daß das Prinzip, den Konflikt „ausbluten“ zu lassen, die Ursachen des Krieges besser bekämpft als eine direkte Intervention. Der UN-Blauhelmeinsatz liegt in all seiner Halbherzigkeit im Spannungsfeld dieser Möglichkeiten. Er lindert sicher via humanitärer Hilfe „das Ausbluten“ und wird dadurch auch kurzfristig psychologisch konfliktmindernd, ist aber weit davon entfernt, zum Ende des Krieges beizutragen, von Kriegsursachenbeseitigung ganz zu schweigen. Hat nicht eher die Androhung von Nato-Luftangriffen 1994 die Belagerer von Sarajevo beeindruckt? „Gewalt erzeugt Gegengewalt“ ist kein Naturgesetz. Die gewaltsame Beendigung des Zweiten Weltkrieges liefert den Gegenbeweis. Man muß also im Einzelfall bei der Beurteilung von Gewalt und Lösung von Kriegsursachen bitte etwas konkreter werden. Dabei fällt der Kontrast zwischen der Inhaltsleere des „Positions“-Papiers, bezogen auf die Analyse der Ursachen des Krieges, und der gleichzeitigen heftigen Proklamation der Sinnlosigkeit einer Intervention auf, wenn durch diese die – unerwähnten – Kriegsursachen ungelöst bleiben.

Niemand hat etwas gegen „tatsächliche Abrüstung“, Verbot von Rüstungsexporten, den „Aufbau eines gesamteuropäischen Systems nichtmilitärischer Sicherheit“ – dies soll in der Tat integraler Bestandteil grüner Außenpolitik sein. Nur sollten die Systeme nichtmilitärischer Sicherheit in der konkreten Situation eben auch sicher und nicht ohnmächtig sein. Ein Embargo ist friedenspolitisch kontraproduktiv, wenn damit der militärisch überlegene Aggressor sich der Schwäche seines Aggressionsobjektes sicher ist. „Das Embargo gegen Bosnien klammheimlich zu unterlaufen“, hat entgegen der Suggestion der AutorInnen mit für ein Minimum friedenspolitischer Stabilität in den letzten Jahren gesorgt. Dieses und der politische Bruch zwischen den serbischen Führungen sind natürlich klassische Parameter der Machtpolitik, welche jetzt die bosnischen Regierungstruppen in die Lage versetzen, das zu tun, was die jahrelange Aufgabe der kleinmächtigen Weltpolizei hätte sein müssen: unter (in der Tat blutigen Opfern) den Belagerungsring um Sarajevo und anderer Schutzzonen zu durchbrechen. Oder handelt es sich hierbei jetzt etwa um bosnische Großmachtpolitik?

Es gibt genügend „Richtungsänderungsbedarf“ in der Außenpolitik durch Rot-Grün, bei den Praktiken des deutschen Rüstungsexports etwa, oder hinsichtlich der Verteidigung der Menschenrechte. Aber internationale humanitäre Interventionen einfach ohne jegliche Bewertung der faktischen Situation zum Beispiel in Bosnien abzulehnen, ist nicht gerade das, worauf die große Mehrheit der rot- grünen WählerInnen gewartet hat. Wir hoffen, daß sich in nächster Zeit differenzierte grüne Positionen durchsetzen werden, die den gedankenlosen Zynismus des Positionspapiers von Müller und Trittin verdrängen.

Die Autoren arbeiten als Historiker in Konstanz